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Neue Lieder, gekannt sei eh und eh

MOZARTEUM / KLANGREISEN / LIEDERABEND

19/11/15 Die Leute schreiben noch Lieder! Und zwar unglaubliche Lieder. Jörg Widmanns Liederzyklus „Das heiße Herz“ erlebte am Mittwoch (18.11.) seine Österreichische Erstaufführung als Gesamtwerk. Einzelne Lieder haben Gerhaher/Huber bereits in Wien aufgeführt. Im Solitär traf der Bariton Thomas E. Bauer die Liedenthusiasten mitten ins Herz.

Von Heidemarie Klabacher

Bei einer „Winterreise“ ist man vorbereitet (je nach Sänger auch gewappnet). Aber nicht bei einem noch druckfrischen Liederzyklus, den man zunächst einmal unvoreingenommen kennen zu lernen gedachte. Von wegen.

Jörg Widmanns „Liederzyklus für Bariton und Klavier nach Gedichten von Klabund, Clemens Brentano, Peter Härtling und Gedichten aus ‚Des Knaben Wunderhorn’“ hat sich beim ersten Hören einen Platz neben – ja durchaus neben – seinen berühmten Schwesterwerken gesichert.

Oberflächlich betrachtet hat sich Widmann die Geschichte des Liederschreibens entlang zitiert. Da klingt just ein Lied aus „Des Knaben Wunderhorn“ haarscharf nach Mahler. Da erinnert ein Heine-Lied in seiner bis in den Klaviersatz pointierten Ironie an Schumann. Für Augenblicke scheint es zu jazzeln, zu brettliedern, zu dreigroschenopern oder gar ein wenig zu webern - besonders in den Liedern auf die frechen schrägen Gedichte von Klabund. Beim zweiten Mal hören werden sich auch noch weitere irrlichternd flackernde Zitate auf weitere Schubert- oder Schumannlieder in der Klavierbegleitung aufspüren lassen.

Aber bei allem raffinierten intertextuellem Spiel mit „klassischem“ Material hat der Komponist eben doch Widmann-Lieder geschrieben, eigenständige Miniaturen mit immer wieder überraschenden Brüchen.

Der Zyklus „Das heiße Herz“ erzählt keine Geschichte, sondern ist eine Zusammenstellung von Texten verschiedenster Epochen, die aber alle besonders gut das Ausmalen unterschiedlichster Stimmungen und Atmosphären erlauben (ähnlich Robert Schumanns „Kerner-Liedern“ op. 35, die im ersten Teil des Abend erklangen). Brüche und Ironie sind besonders in den Klabund-Texten programmatisch vorgegeben, Widmann scheint oft weniger „komponiert“, als „koloriert“ zu haben. Man spürt den Respekt vor dem Text. Muss ein großer Lyrik-Freund sein.  

Abschluss und Höhepunkt des Zyklus ist das Lied „Einsam will ich untergehen“ auf das Gedicht von Clemens Brentano. Hier überwältigt allein schon im Text die enorme Spannung, die sich auftut zwischen dem abgründig romantischen Klagegesang und dem strengen komplexen Reimschema. Von Schubert gibt es auch so eins: Nachtgesang, ein Goethe-Lied, bekommt sein beruhigendes Wiegen daher, dass die dritte Zeile jeder Strophe jeweils auch die erste Strophe des nächsten Vers ist.

In dem viel längeren Brentano-Gedicht sind die Verschlingungen viel komplexer. Allein die Titelzeile kommt in jeder der acht Strophen zweimal vor; die letzte Zeile jedes Verses ist die zweite des nächsten… Was bei Schubert/Goethe ein unendliches und unendlich tröstendes Wiegen in den Schlaf ergibt, ist bei Widmann/Brentano ein betörend schönes letztes Wiegen eines im Leid Versinkenden auf tödlichen Wellen. „Einsam will ich untergehen“ von Jörg Widmann ist fast ein Schubert-Lied oder fast ein Schumann-Lied. Fast. Auch hier gibt es - oft nur augenblicksweise aufblitzend - verstörende Brüche, zeitgenössische Sprengladungen, sei es im Klavier-, sei es im Gesangspart.

Der Bariton Thomas E. Bauer hat, begleitet von Siegfried Mauser, gesangstechnisch und textgestalterisch virtuos, in beklemmende seelische Tiefen geführt. Romantisch? Postromantisch? Keine Schublade, kein Schmuckkästchen passt für diese schönste Perle im Diadem dieses neuen und sofort so vertrauten Liedzyklus.

Bilder: Marco Borggreve

 

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