Wo die Musi spüt
ASPEKTE festival / BLOG
26/02/21 Von 3. bis 7. März steigen die Aspekte im Internet. Der Hamburger Kultur-Journalist und Professor an der Lettischen Kulturakademie Claus Friede blogt zum Festival und betrachtet aus alternativen Blickwinkeln zeitgenössisches Musikschaffen und künftige online-Ereignisse etwa über den Weg der Bildende Kunst.
Von Claus Friede
Das wohl berühmteste und eines der prägendsten Bilder des 20. Jahrhunderts ist eines des Malers und Hauptvertreters der Russischen Avantgarde, Kasimir Malewitsch (1878-1935). Es heißt das Schwarze Quadrat (auf weißem Grund), wurde 1915 erstmals ausgestellt und ist heute in der Moskauer Tretjakow-Galerie zu besichtigen.
In der Moderne der Kunst spricht man von einem „Nullpunkt“ der Malerei, von der absoluten Abstraktion, die nicht mehr gesteigert werden kann. Ehrfurcht? Eher nicht, denn dieses Bild wirft für viele lediglich eine einzige Frage auf: Was ist daran Kunst?
Einen vertieften Ausflug in die Kunstgeschichte von der Höhlenmalerei bis zum Heute zu durchwandern, um zu begreifen, was daran Kunst ist und warum es sich um überaus prägende Malerei, ja, um eine Ikone der Kunst handelt, würde hier zu weit führen, aber heben wir nur einmal einen einzigen künstlerischen Aspekt des Bildes hervor, so erhalten wir zumindest eine Ahnung davon, warum es so wichtig ist.
Dieses Bild, das nichts zeigt, zeigt eigentlich alles. In dieser Paradoxie liegt einer der besonderen Reize und eine unerhörte Tiefe. Die schwarze Fläche lässt sich als eine Projektionsebene denken. Vergleichbar einer Kinoleinwand, projiziere ich meine inneren Bilder auf diese Wand, sie kann also alles zeigen, was in mir und vorstellbar ist. Das Projizieren tue ich übrigens grundsätzlich, denn auch bei einem Film, Video, einer Sendung, einer Opern-, Theateraufführung oder bei einem Konzert spiegele ich auch meine inneren, aktuellen oder erinnernden Befindlichkeiten und Bilder durch die aneinandergereihten Momente. Es entsteht ein psychisches Gegenüber.
Das zweidimensionale Bild würde man heute als Screen bezeichnen, hinter dessen Oberfläche die Welt zuhause ist – genauso unbegrenzt wie im Schwarzen Quadrat. Denken wir nun das Malewitsch'sche Bild dreidimensional, so erhalten wir einen schwarzen Kubus, einen dunklen, indifferenten Raum, der ebenso von uns kreiert und gefüllt wird wie das Bild, ebenfalls als Gegenüber. Wir können diesen Raum nicht betreten, wir halten die gleiche Distanz wie zum Bild und doch können wir in ihn ein- oder abtauchen, uns in ihn hineinversetzen, mit Avataren handeln und (vermeintliche) Realität suchen.
Samuel Beckett thematisierte vor vierzig Jahren den begrenzten-unbegrenzten Raum als wortlose existenzialistische Frage: Er selbst führte 1981 bei der Uraufführung des Fernsehspiels Quadrat I und II für den Süddeutschen Rundfunk Regie und lässt seine vier Protagonisten aus dem Nicht-Raum in einen Raum und wieder in den Nicht-Raum zurückkehren. Wir wissen jedoch, dass die vier eingehüllten Individuen auch im Nicht-Raum existent bleiben und genau jene Themen damit ansprechen, die uns heute in der Digitalität auch beschäftigen. Beckett wirft in diesem Zusammenhang noch eine weitere Frage auf, nämlich die nach einer Gemeinschaft, die bestimmten Pfaden und Regeln folgend, ein System funktional macht. Das klingt aus dem dunklen Raum des pandemischen Lockdowns heraus in der Tat existenziell und realitätssuchend.
Der US-amerikanische Kulturwissenschaftler indischer Herkunft, Homi K. Bhabha, fragte in den frühen 1990er Jahren in einem Buch nach der Verortung der Kultur The Location of Culture und plädierte für neue kulturelle Aushandlungsprozesse. Sein Fokus lag dabei auf dem sogenannten Dritten Raum Third Space, der sich durch hybride Zwischenräume in-between auszeichnet.
Die Entgrenzung des (virtuellen) Raums, die Allgegenwärtigkeit des Globalen, die Räume jenseits eines Screens und das Gemeinschaftliche im alleinigen individuellen digitalen Erleben zu sehen, lassen – wie bei Beckett – neben der Neudefinition von räumlichem Verständnis und Verhältnissen auch die Frage nach neuen Gemeinschaften zu und der konkreteren Frage: Welches Miteinander wollen wir?
Bhabha taucht in diesem Zusammenhang zusätzlich deswegen auf, weil er Kulturen niemals als einheitlich oder abgegrenzt ansieht, sondern vielmehr als Felder der Aushandlung von Differenzen versteht. Dies ist als ein langer Prozess anzusehen.
Online-Festivals sprießen aus der Corona-Pandemie-Not heraus auf den Äckern der Kultur, mit einem sehr unterschiedlichen Verständnis von Digitalität und Digitalisierung. Das bloße Nutzen von digitaler Technik und digitalisierten Medien sagt zunächst und größtenteils inhaltlich wenig aus, wichtiger ist vielmehr, wie diese Techniken und virtuellen Möglichkeiten in künstlerische Prozesse einbezogen werden können. Und dann schält sich auch die Suche danach heraus: Wie werden Kulturereignisse zu digital-emotionalen Räumen? Abfilmen von realen Situationen und diese dann als Streaming ins Internet zu stellen, bietet weder einen Ausgleich für beispielsweise einen Konzertbesuch noch einen Ersatz noch einen Mehrwert. Es zeigt lediglich, dass das Publikum vermisst wird, das Gegenüber fehlt oder derart indifferent ist, dass es nebulös bleiben muss. Es fehlen der Applaus und die Anerkennung, die sich beide nicht über die Anzahl von Klickzahlen vermitteln lassen.
Vielmehr dürfen Online-Festivals zukünftig nicht als Surrogat, als Rettungsring in einer aufgewühlten See angesehen werden. „Aus der Not heraus“ kann zwar für eine gewisse Zeit den Schmerz lindern, nicht analog aufführen zu können, gesehen zu werden und das Einstudierte öffentlich zu machen – mehr aber auch nicht. Das Online-Festival sollte – ja, müsste – als eigenständige originale Form wahrgenommen werden, die ebenso eigenständige originale Kultur hervorbringt. Auch hier müssen wir geduldig sein, bis auch dies kulturell und gesellschaftlich ausgehandelt sein wird und Künstler, Veranstalter und Publikum sich auf einem gemeinsamen Weg treffen können, eventuell auch eine neue Aufführungspraxis erarbeitet haben.
Komponisten und Arrangeure in der „Musik unserer Zeit“ haben da große Chancen zukünftig etwas Wegweisendes beizusteuern, wenn sie wahrnehmen, wie sich die digitale Erlebenswelt und damit einhergehend die sozialen Prozesse beeinflussen lassen und verändern. Die Aspekte gehen nun auch diesen Weg eines einmaligen Online-Festivals, bevor es in den kommenden Jahren wieder zum Analogen zurückkehren soll. Oder doch hybrid? Die Erfahrungen anderer Festivals für Neue Musik lassen hoffen.
Nun gilt es für 2021 erst einmal bestimmte Koordinaten zu markieren, um darin einen Hörraum zu bestimmen und zu gestalten, der der Mobilität der Hörer auch gerecht werden kann. Heute nämlich davon auszugehen, dass das Online-Publikum einheitlich auf dem Sofa vor dem Endgerät sitzt, ist absurd. Die Umkehrung der Idee, das Publikum an einem Ort zusammenzubringen, um ein gemeinsames konzertantes und visuelles Erlebnis zu kreieren, weicht einer anderen Wirklichkeit: Eben dass das (potentielle) Publikum an sehr verschiedenen Orten in ganz unterschiedlichen Situationen, mit unterschiedlicher Tonqualität versehen (Nebengeräusche, unterschiedliche Qualität von Kopfhörern etc. mitgedacht) und zu unterschiedlichen Zeiten, ja verschiedenen Zeitzonen, etwas erleben soll/darf.
Insofern könnte man auch das Festivalkonzert selbst als Reise, als in Bewegung ansehen und dem nomadischen Verhalten des Publikums entgegenkommen. Dementsprechend machten Aspekte-Festival-Intendant Ludwig Nussbichler und sein Team auch die Vorgabe, keine analogen Konzertsituationen nachzustellen.
„Im Zentrum steht vielmehr die absolut ungeteilte Aufmerksamkeit auf das Werk und dessen Interpretation. Dafür soll von Beginn an der emotionale Rahmen erzeugt werden, sozusagen Musik, die aus der Stille geboren in diese dann ‚zurück-klingt‘. Musik pur“, wie es im Konzeptpapier heißt.
Eine konkrete visuelle, räumliche Vorstellung und Vorgabe soll außerdem garantieren, dass der konzertante Ort neutral bleibt und auch der digitale Festivalbesucher nicht weiß, ob das Ensemble in Salzburg, Wien, Taipeh oder Hamburg zuhause ist. Die gewohnte Verortung abzulösen ist eine sinnvolle Reduktion und eine Art Reinigungsprozess. Sie schafft einen „Void Space“, der sich auf sich selbst konzentriert und den Tönen den primären Raum überlässt, sich sukzessive aus der vollkommenen Ruhe füllt. Genau jetzt und hier gehen wir an den Anfang dieses Blogbeitrags zurück und zu der Vorstellung des „Schwarzen Quadrats“, der zum „Black Cube“ wird, der all das absorbiert, was vorstellbar ist und zu einem Erlebnisraum wird, der individuelle Freiheiten für Musiker und Publikum zulässt und darüber hinaus Phantasie generiert.
Dann erst sind wir dem dunklen Raum der Pandemie entstiegen – und kommen dafür in einer zunächst scheinbar leeren Sphäre an, die sich im Zusammenspiel von Künstlern und Zuschauern sowie von den Zuschauern untereinander jedoch interaktiv füllen und somit einen neuen, hybriden, aber menschlichen „dritten“ Raum entstehen lässt, der sich als zukunftsweisend herausstellen könnte.