Sinfonie der Tausend? Einer weniger!
HINTERGRUND / SALZBURGER BACHCHOR / LEITUNG
09/06/20 „Es sind die Menschen, die Musik erst hörbar machen“, heißt es auf der Website des Bachchors Salzburg. Wo Menschen sind, ist leider auch Hader nicht weit: Ziemlich rüde hat man den langjährigen künstlerischen Leiter Alois Glaßner in die Wüste geschickt.
Von Reinhard Kriechbaum
Eigentlich hätte der Bachchor heute Dienstag (9.6.) in der Bayerischen Staatsoper in München unter der Leitung von Kirill Petrenko Mahlers Sinfonie der Tausend singen sollen. Das sind natürlich viel zu viele Musiker, also Corona-bedingte Absage. Aber der Bachchor sorgt trotzdem für Töne. Leider für Misstöne: In einer recht lapidaren Presseaussendung tut man kund, dass man sich von Alois Glaßner, dem künstlerischen Leiter seit 2003, trennt. Immerhin heißt es da wohlwollend: „Präsident Roman Stalla bedankt sich bei Glaßner, der dem Chor über viele Jahre hinweg wesentliche Impulse gab und in seiner Professionalisierung unterstützte.“ Das ist eine mehr als unterkühlte Formulierung zum Abschied von einem der qualifiziertesten Chorleiter in Österreich. Alois Glaßner baut gerade als Professor am Institut für Musikleitung an der Wiener Musikuniversität einen neuen Studienzweig für Chordirigieren auf.
Mit dem Bachchor habe Glaßner „siebzehn Jahre lang wirklich gut zusammengearbeitet, das steht überhaupt nicht in Frage“, so Roman Stalla auf Nachfrage des DrehPunktKultur. „Nun ist es Zeit für neue Impulse, um mit Offenheit und Neugier spannende Projekte zu verwirklichen, die die Vielseitigkeit und das Können der Sängerinnen und Sänger in den Mittelpunkt stellen.“ Was das konkret heißt? Roman Stalla spricht von einer Erweiterung durch neue Konzertformate, auf verbindungen mit anderen Kunstrichtungen (Literatur, bildende Kunst).
Alois Glaßner gibt sich im Gespräch mit dem DrehPunktKultur vor der Kopf gestoßen, will aber „nicht öffentlich Schmutzwäsche waschen“. In einem (Abschieds)Schreiben an den Chor beschreibt Glaßner „überdimensionierte Strukturen und eine Vereinsleitung, die sich über Gebühr wichtig“ nehme. Seine Position als künstlerischer Leiter sei „zunehmend untergraben und meine Arbeit immer weniger unterstützt“ worden. „Zunächst unmerklich und hinter meinem Rücken. In letzter Zeit immer offener und unverhohlener.“
Alois Glaßner hat in einer Vorstandssitzung Anfang März „die Vertrauensfrage gestellt“. Damals sei man zu keinem Entschluss gekommen. Dann kam Corona, keine weitere Sitzung war möglich, eine Videokonferenz sei vom Vorstand abgelehnt worden. Eine schriftliche Abstimmung unter allen vereinsmitgliedern (das sind ungefähr dreißig) ist schließlich gegen Alois Glaßner ausgegangen. „Ich weiß bis heute nicht, was mir genau vorgeworfen wird“, sagt er.
Wie denken die Chormitglieder – ein Pool von rund 150 Sängerinnen und Sängern – darüber? „Da gibt es einen Riesenaufruhr“, so Glaßner. Es kursiert aber auch ein anonymes Schreiben eines Chormitglieds, in dem es sinngemäß heißt, Unmut und Frust mache sich im Chor breit. Neben der Arbeit an der Wiener Musikuniversität bleibe Glaßner „keine positive Energie“ für den Bachchor, argwöhnt der recht deftig argumentierende Anonymus, der Glaßners Arbeit als die Stimmbänder überstrapazierend und den musikalischen Ertrag als gering einschätzt.
Der Schritt ist jedenfalls radikal. Man trennt sich von Glaßner, ohne die Nachfolge geklärt zu haben. „Der Vorstand wird sich in den kommenden Monaten im In- und Ausland nach einer interessanten Persönlichkeit umsehen, die das künstlerische Potential des Bachchors in der Zukunft weiter ausbauen soll“, heißt es in der Presseaussendung. Der Chor habe vor, „mit unterschiedlichen Chorleiterinnen und Chorleitern zu arbeiten und freut sich auf interessante und vielfältige musikalische Begegnungen.“
Der 57jährige Alois Glaßner studierte in Wien Orgel, Kirchenmusik, Komposition, Dirigieren und Gesangspädagogik. Gaststudien führten ihn nach Stockholm zu Eric Ericson sowie nach London. Bereits während der Studienzeit gründete er den Hugo Distler Chor Wien und machte dieses Ensemble in den zehn Jahren seines Bestehens zu einem der herausragenden Konzertchöre des Landes. Von 1992 bis 2005 war er Kirchenmusikdirektor an der Wiener Augustinerkirche. 2003 übernahm Alois Glaßner die künstlerische Leitung des Bachchores Salzburg. Von der Mozartwoche bis zu den Festspielen ist der Salzburger Bachchor sozusagen „Hausensemble“. Gaßner initiierte auch den A-Capella-Zyklus Chorage, mit dem der Bachchor in den vergangenen Jahren auch im Land Salzburg gastierte. Auch an Festival-Verpflichtungen im in- und Ausland fehlt es nicht.
Ist ein Aderlass unter den Sängerinnen und Sängern zu befürchten? Der Anteil von Chormitgliedern aus Wien sei sehr gering, sagen sowohl Alois Glaßner als auch Vereinspräsident Roman Stalla. Ein Chorleiterwechsel, noch dazu unter solchen Bedingungen, löst jedenfalls Unruhe aus. Bei den kommenden Festspielen ist der Bachchor nur ein Mal dran, in einer Mozart-Matinee unter Ivor Bolton mit der Waisenhaus-Messe. Die sollte respektabel hinzukriegen sein, trotz widriger Umstände.