Wenn das Echo ihrer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde
HINTERGRUND / MIECZYSŁAW WEINBERG
03/12/19 „Leise bohrender Expressionismus verwandelt sich in Klangbilder, die man in die Kategorie 'himmlisch' einordnen möchte...“ Jüngst spielte das Mozarteumorchester unter Mirga Gražinytė-Tyla seine Zweite. Im März spielte Linus Roth die Violinsonate Nr. 2 bei der Stiftung, wo das Stadler Quartett einen Zyklus hat... Am 8. Dezember gipfelt das Weinberg-Jahr im 100. Geburtstag, der von 4. bis 8. mit dem Festvial Weinberg 100 gefeiert wird. - Karl Müller umreißt in seinem Essay Leben und Werk des zum Glück nicht länger ganz vergessenen Komponisten und Pianisten aus Polen.
Von Karl Müller
Die Hommage gilt dem jüdisch-polnischen Komponisten und Pianisten Mieczysłav Weinberg, der – zweimal auf der Flucht vor der Deutschen Wehrmacht (1939: Überfall auf Polen. Flucht aus Warschau in das weißrussische Minsk. Die Eltern und seine Schwester kamen in einem deutschen KZ um. 1941: Überfall durch das NS-Regime auf die Sowjetunion. Weinberg wurde durch die Rote Armee nach Taschkent in Usbekistan evakuiert) – seit 1943 als Sowjet-Bürger bis zu seinem Tod in Moskau lebte und ein umfangreiches und in jeder Hinsicht brillantes, vielgestaltiges Werk schuf.
Seine enge Freundschaft und der gegenseitig befruchtende künstlerische Austausch mit Dmitri Schostakowitsch sind legendär. Sogar Aufnahmen der beiden als Pianisten kann man nachhören.
Das Werk Weinbergs ist Ausdruck eines inneren aufrechten Ganges als unabhängiger Künstler und eines stolzen künstlerischen Eigensinns, dem seine Widerständigkeit gegen alle Formen ideologisch bornierter, oft antisemitisch ausgerichteter Zensur, Kontrolle und Demütigung eingeschrieben ist – insbesondere gegen seit 1946 in der Sowjetunion grassierende groteske Stigmatisierungen von Künstlerinnen und Künstlern, mit Totschlag-Argumenten wie etwa „Formalismus“, „abstrakter Humanismus“, „Verkopftheit“ oder „bourgeoiser Kosmopolitismus“.
Weinberg „verweigerte sich sowohl dem karrieristischen Establishment des volksnahen sozialistischen Realismus“ und einem „konformistischen Konservatismus“ als auch, „von 1960 an, der Clubmentalität der sowjetischen Avantgarde“ und der „Seichtigkeit der Moderne aus zweiter Hand“, schreibt sein Biograph David Fanning. Weinberg war in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur mit musikpolitischen Vereinheitlichungsbestrebungen der stalinistischen Kulturpolitik konfrontiert, sondern auch mit Ungeheuerlichkeiten in seinem engsten Umfeld und seine eigene Person betreffend: Weinbergs Schwiegervater Solomon Michoels, ein berühmter Schauspieler des jiddischen Theaters und seit 1942 Vorsitzender des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“ in der Sowjetunion, wurde 1948 in Warschau vom sowjetischen Geheimdienst auf offener Straße ermordet. Weinberg selbst wurde 1953 im Zuge der aberwitzigen Kampagne gegen „jüdisch bourgeoisen Nationalismus“ mehrere Monate in Einzelhaft genommen und wohl auf Intervention von Schostakowitsch wieder enthaftet. Weinberg, der der Roten Armee sein Leben lang für seine Rettung nach Taschkent dankbar war, war für die sowjetische parteistaatliche Kulturbürokratie „nie ein vermarktbarer Exportartikel“. Wegen seines jederzeit verdächtigen Judentums oder seines angeblich abstrakten humanistischen Universalismus? Aber große Künstler aus der Sowjetunion erkannten die Qualität seines Werkes, schätzten es ungemein und führten es auf, darunter David Oistrach, Mstislav Rostropowitsch, Emil Gilels, das Borodin-Quartett, Vladimir Fedosejew oder Kirill Kondrashin. Der Westen wusste davon wenig und die sowjetische Welt war offensichtlich nicht so, wie es „der Westen“ eindimensional darstellte.
Weinberg hat ein immens reiches, tief in den europäischen musikalischen Traditionen verankertes (Bach, Mahler, Debussy) und zugleich sehr umfangreiches Ouevre hinterlassen, das alle musikalischen Genres, verschiedene Ausdrucksweisen und Kompositionsverfahren umfasst: volksverbundene Klezmer-Tradition, klassisch-romantische bis moderne und avantgardistische – Opern, Ballette oder Chorwerke. Weiters Liederzyklen nach Textvorlagen von vielen Dichtern in jiddischer, polnischer oder russischer Sprache, 26 Symphonien und 17 Streichquartette. Dazu kommt eine große Anzahl kammermusikalischer Stücke für verschiedenste Besetzungen, Solistenkonzerte, ein Requiem, nicht weniger als sechzig abendfüllende Filmmusiken, Radio-, Theater-, Zeichentrick- und Zirkusmusiken. Letztere entstanden als qualitätsvolle Unterhaltungsmusik, um als freischaffender Komponist in einem immer auf Lauer liegenden Kontroll- und Zensurbetrieb zu überleben.
Die aktuelle Hommage in Salzburg, das Festival Weinberg 100 von 4. bis 8. Dezember, gilt einem schöpferischen Menschen, in dessen zutiefst humanistischem Werk unablässig beklemmende lebensgeschichtliche und existentielle Erfahrung thematisiert und hörbar wird: Die bewegende musikalische Widerspiegelung einer ganzen Epoche.
Es ist dem „West-östlichen Divan“, dieser rührigen und der Wahrnehmung oft verborgener Musikkulturen verpflichteten Salzburger Musikgesellschaft zu verdanken, dass dieses Fest für Mieczysław Weinberg stattfinden kann. Frank Erik Stadler, Konzertmeister des Mozarteumorchesters Salzburg, Hossam Mahmoud, aus Ägypten stammender Komponist und Musiker sowie Mirga Gražinytė-Tyla, Chefin des City of Birmingham Symphony Orchestra entwickelten das umfassende Programm. Ihnen sind nicht nur viele Kooperationen vor Ort gelungen. Auf ihre Einladung kommt sogar Gidon Kremer, für den Weinberg „zu den wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts zählt. Kremer wird zwei Violinsonaten Weinbergs spielen.
Das Festival Weinberg 100 schließt an die erst etwa zehn Jahre nach Weinbergs Tod (1996) sowohl im Veranstaltungs- und Wissenschafts- (z. B. David Fanning, Verena Mogl) als auch Musikbetrieb des „Westens“ intensiver werdenden Erkundungen seines Werkes an: Man erinnere sich etwa an die Streichquartett-CD-Produktionen des belgischen Quatuor Danel oder jene der Kremerata Baltica Gidon Kremers, auch unter dem Dirigat von Mirga Grazinyte-Tyla, natürlich auch an die 2010 bei den Bregenzer Festspielen stattgefundene Uraufführung von Weinbergs musikästhetisch zentralem und zugleich aufrüttelndem Opernwerk „Die Passagierin“ (Wiener Symphoniker, Prager Philharmonischer Chor, Leitung: Teodor Currentzis) – nicht zu vergessen auch die Gründung der Internationalen Mieczysław Weinberg Gesellschaft 2013 durch den Geiger Linus Roth.