Zug ins Nirgendwo - und zurück
ASPEKTE / DIFFERENT TRAINS
27/04/18 Es sollte ein Pflichtstück sein – für alle Jugendlichen, für alle Erwachsenen. Für alle Politiker und jene, die sich dafür ausgeben. Sollte in allen historischen Museen, in allen Gedenkstätten, in den Info-Räumen der Konzentrationslager auf Endlos-Schleife laufen: Steve Reichs „Different Trains“ mit dem Video von Beatriz Caravaggio. Die Aufführung des Streichquartettes des London Contemporary Orchestra bei den Aspekten fuhr tief in die Knochen.
Von Heidemarie Klabacher
Steve Reich hat „Different Trains“ 1988 auf Anregung des Kronos Quartetts geschrieben. Es ist ein Klassiker, den man x-mal gehört hat und den man zu kennen glaubt. Man weiß natürlich in groben Zügen um die biografischen Hintergründe: Als Kind ist Steve Reich, Jahrgang 1936, viel Zug gefahren zwischen New York und Los Angeles, um die getrennt lebenden Eltern zu besuchen. „Wann war das noch“, habe er sich zu fragen begonnen, erzählt der Komponist. „Nun, das war 1939, 1940, 1941. Und ich fragte mich, was mit den kleinen jüdischen Jungen los war zu der Zeit, die so alt waren wie ich, und in Zügen aus Rotterdam oder Brüssel oder Budapest saßen, und nach Polen gebracht wurden und nie zurückkamen.“
Die spanische Dokumentarfilmerin und Videokünstlerin und Fotografin Beatriz Caravaggio schuf zu Steve Reichs achtzigstem (nicht sechzigsten, die wie im Aspekte-Programm) Geburtstag 2016 eine neue Video-Installation zu „Different Trains“: Mit größter Zurückhaltung nur setzte sie Archivbild-Material aus Konzentrationslagern ein. Die wenigen Porträts gehen ans Herz, auf Schockbilder von Leichenbergen verzichtet Caravaggio.
Bedrohlich rotierende Räder sind wahrlich schlimm genug – im Kontext von Steve Reichs drängender Musik. Die Stimme seines Kindermädchens, das das Scheidungskind auf seinen Fahren begleitet hat, die Stimmen von Zugschaffnern wehen aus der Vergangenheit herüber – und lassen den Atem anhalten. Gut verständlich, dass dies das Video ist, dass Steve Reich favorisiert, wie Aspekte-Leiter Ludwig Nussbichler erzählte.
Der Aufführung im Republic voraus gingen erstaunlich „schöne“, in der Harmonik erstaunlich konventionelle Stücke – wenngleich von überaus moderner innerer Unruhe geprägt; wie etwa Micha Leivis „Signal Before War“ für Solovioline; das in grandiosen Klangwogen über den Zuhörer hereinbrechende Streichquartett von Jonny Greenwood „Prospector’s Quartet (from There Will Be Blood)“ oder das wirklich unverschämt schöne Cello-Solo „Found This“ mit Elektronik aus der Feder von Chaines, einer britische Performerin und Komponisten. Die Soundprojektion „Colour Field Painting” von Edmund Finnis erinnerte dagegen doch nur an Yoga-Stunden-Entspannungs-Musik, auch wenn sie vor der hochenergetischen Aufführung von „Different Trains“ dramaturgisch klug platziert war. – In Summe ein grandioser Aspekte-Abend.