Der Heimat- und der Fremdwert von Tönen
HINTERGRUND / MIGRATION / MUSIK
11/10/17 Was geschieht mit Musik als Ausdruck unserer kulturellen Identität, wenn wir gezwungen sind aus unserer Heimat zu flüchten? Oder salopp gefragt: Geht ein Alpenländer in die Fremde, welche Bedeutung kommt dann dem Jodeln zu, für ihn und oder auch für seine neue Lebensumwelt?
In der Abteilung für Musik- und Tanzwissenschaft an der Universität Salzburg geht es nicht ums Jodeln, aber um die Zusammenhänge von „Musik und Migration“. Einen solchen Forschungsschwerpunkt hat man schon 2014 etabliert und aktuell zwei neue Sammlungen von emigrierten Kunstschaffenden erhalten. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit birgt Aktualität, wenn man sich die Frage stellt: Kann aus einer Flüchtlingskrise eine Chance werden, wenn man die Potentiale darin erkennt?
In den 1930er Jahren verließen auf der Flucht vor den Nazis tausende professionell mit Musik befasste Menschen Österreich und Deutschland und mittlerweile mehren sich die Nachlässe dieser emigrierten Künstlerinnen und Künstler. So werden Briefe, Tagebücher, Partituren und Bilder in die „Music and Migration Collections“ der Universität Salzburg aufgenommen. „Es entsteht hier ein einmaliges, lebendiges Archiv, das nicht nur große Musikschaffende im Blick hat, sondern das Exil als identitätsverändernden Prozess“, erklärt Universitätsprofessor Nils Grosch, Leiter Abteilung Musik- und Tanzwissenschaft. „Musizieren bedeutet nicht nur künstlerischen Ausdruck, sondern es ist auch ein gesellschaftliches Dokument.“
Zu den jüngsten Errungenschaften gehört eine Sammlung von Bildern der in Deutschland geborenen Künstlerin Milein Cosman, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nach England fliehen musste. Die noch lebende Künstlerin überlässt unzählige ihrer Zeichnungen und Radierungen von Tänzerinnen der Universität. „Es ist ein großer Schatz, den wir hier bekommen. Cosman hat atemberaubende Bilder von bekannten Tänzern und Musikern geschaffen, die eine wunderbare Dynamik ausstrahlen“, schwärmt Grosch.
Ein weiterer Baustein in der Sammlung wird der Nachlass der dänisch-isländischen Sängerin Engel Lund sein. Sie tourte in den 1920/30er Jahren mit einem sehr internationalen, politischen Liederprogramm durch Deutschland und Österreich. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zogen sie und ihr Kärntner Konzertpartner Ferdinand Rauter nach England. Nachdem die Dokumente von Rauter bereits den Weg ins Salzburger Archiv gefunden haben, folgt jetzt auch der Nachlass der Sängerin.
„Ich hoffe, dass unsere Sammlung weiterhin so wächst“, so der Musikwissenschafter Grosc, der zum Thema auch schon ein Buch herausgegeben hat. „Wir bringen den Nachlässen große Wertschätzung entgegen und machen sie der Forschung zugänglich.“ Studierende erstellen Findbücher, mit deren Hilfe Wissenschaftler aus aller Welt Einblick bekommen, welche Originale in Salzburg lagern. „Es wird hier von den Studierenden Pionierarbeit geleistet. Sie erschließen die Quellen und werten sie aus.“
Durch den Forschungsschwerpunkt versucht man aber auch der Bedeutung näher zu kommen, die Menschen der Musik zuschreiben. „Wir können hier Dokumente untersuchen, die auf wunderbare Art aufzeigen, wie musikalische und kulturelle Identitätsbildung als schöpferischer Prozess funktioniert“, sagt Grosch. Kultur werde hier als Prozess mit all seiner kreativen Dynamik freigelegt. „Migration, Ausgrenzung und Verfolgung haben somit einerseits ihre schrecklichen Seiten – andererseits fordert ein Ortswechsel das Einlassen auf neue Denkprozesse im Aufnahmeland und auch Musik ist durch den neuen Kontakt in Veränderung und Vernetzung begriffen.“ (Universität Salzburg)