Weltschmerz - aber keine "gefühlvolle Jauche"
KULTURVEREINIGUNG / HR-SINFONIEORCHESTER / ANDRÉS OROZCO-ESTRADA
19/01/17 Seit vergangenem Sommer ist ihm Salzburg nicht fremd. Nun gastiert der kolumbianische Wahl-Österreicher Andrés Orozco-Estrada mit seinem hr-Sinfonieorchester im Großen Festspielhaus. Ihm zur Seite Denis Kozhukhin, ein dreißigähriger „shooting star“ am Steinway.
Von Horst Reischenböck
Von Frankfurt an die Salzach führt der Weg offenbar über Russland. Dementsprechend liegt der programmatische Hauptakzent des dreitägigen Gastspiels bei Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow und dient damit der Ehrenrettung für einen zu Unrecht von seinen Zeitgenossen, weil als „sentimental“ negativ abqualifizierten Komponisten. Richard Strauss verstieg sich gar zu dem vernichtenden Ausspruch „gefühlvolle Jauche“.
Nichtsdestoweniger gilt die Gunst der Interpreten und des Publikums ungebrochen dem ob seiner enormen technischen Schwierigkeiten von Artur Rubinstein so bezeichneten „Elefantenkonzert“, Rachmaninows Konzert Nr. 3 in d-Moll op. 30. Mit diesem warf Landsmann Denis Kozhukhin bei seinem Salzburg-Debüt Mittwoch (18.1.) den Fehdehandschuh hin und siegte haushoch.
Kannte der Komponist den barocken Musiktheoretiker Johann Mattheson? Der beschrieb die Tonart d-Moll als „bescheiden, ruhig“, und genauso schleicht sich der Kopfsatz mit seinem eröffnenden Thema ins Ohr. Es kreist eigentlich banal um in kleinen Schritten um die Tonika kreist. Rachmaninow sagte darüber: „Wenn ich überhaupt einen Plan hatte, als ich dieses Thema komponierte, so wollte ich … eine Melodie, die auf dem Klavier ,singt', und dazu brauchte ich eine geeignete Orchesterbegleitung, die diesen Gesang nicht übertönt.“
Von dieser angetrieben, von der Vorlage her hier dicht verzahnt ins instrumentale Geflecht, steigerte sich Denis Kozhukhin vollgriffig virtuos in den Kulminationspunkt der heute meistens gewählten Kadenz Rachmaninows. Der Komponist selbst übrigens hegte eine Vorliebe für seine andere Variante und spulte das Werk erstaunlich nüchtern in 34 Minuten ab. War's aus Angst, zu viel an innerem Gefühl preiszugeben?
Kozhukhin ließ sich mehr Zeit zum Auskosten. Auch für die wehmütig düsteren Variationen des nachfolgenden Intermezzos mit seinen Walzer-artigen Triolen im Mittelteil, ehe er in den vom Orchester vorgegebenen Marschrhythmus des Finales einstieg und endlich leidenschaftlich die Akkordflut zum Abschluss nach D-Dur hin positiv auftürmte. Bejubelt, wie auch Dirigent Andrés Orozco-Estrada als kongenialer Partner.
Als Zugabe wählte Kozhukhin zum Beweis ihm genauso zur Verfügung stehend zarter Legato-Anschlagskultur Alexander Iljitsch Silotis Bearbeitung des h-Moll-Präludiums von Johann Sebastian Bach und den „Reigen seliger Geister“ aus Christoph Willibald Glucks Oper„Orpheus und Eurydike“.
Nach der Pause durfte das Orozco-Estradas beschwörenden Händen willig folgende Rundfunksinfonieorchester aus Hessen in Johannes Brahms Vierter Sinfonie in e-Moll op. 98 eindrucksvoll alle Facetten an Können ausspielen. Differenziert ausgekostet die eigentlich thematisch eher „mageren“ Terzen und Sexten der Eröffnung seitens der sonoren Streichergruppe, prachtvoll tonschön im Zusammenwirken das Hörnerquartett, herrlich getragen auch das Flötensolo in der abschließend bekrönenden Passacaglia über den Ausgangspunkt, das lediglich durch einen Ton chromatisch veränderte Bach-Thema.