Wegdriften oder dahinsterben?
ARGE KULTUR / stART 2016
20/09/16 „Kerberos score“ heißt die diesjährige Produktion des stART Festivals. Das inszenierte Konzert mit Werner Raditschnig und Gero Koenig, eine Koproduktion von oenm und ARGEkultur, suchte nach dem akustischen Weg zum Stillstand. Noch einmal auf den Weg macht man sich heute Dienstag (20.9.).
Von Erhard Petzel
Ein Elektropolychord waagrecht wie ein Bügelbrett-Skelett. Links dahinter Gero Koenig und sein Chordeograph. Davor ein schütterer Wald aus zahlreichen Fäden, alle gestrafft von schwingenden Blei-Eiern im Laufe des Abends verschwingend… Diese Szene im Dunklen, nur punktuell in selektive Spots gelben Lichts getaucht, war – sozusagen – der Uterus eines okkulten Mysteriums.
Als Introitus entlockt Hohepriester Werner Raditschnig den Saiten seiner archaischen Elektrophone wachsende Klangwesen, von Spulen erotisch angeregt oder in inniger Hingabe von Künstlerhand gekost. Bis sich schließlich Gero Koenig als Herr über seine Metallleier dazu schaltet und mit einer Plexiglasleiste die Saiten überstreicht. In sich langsam entwickelnden Zeiträumen verwebt sich ein Pas de deux der beiden durch Übergänge zwischen Phasen in sich stabilisierender Bewegungen.
Obwohl das von Koenig entwickelte Instrument als klangliches Element für freie Improvisation empfunden wird, erweist sich die Komposition für die „Klangaktion Chordeograph“ als über grafische Notation strikt gebaut. Die Klangfarbenflächen, die auf den Saiten abgezogen werden, sind in ihrem Verlauf bestimmt und dem Gesamtgeschehen zeitlich zugeordnet. Die Akribie der beiden Künstler, mit der sie sich in ihre Klang-Universen spintisieren, verbreitet einerseits eine fast zwanghafte Faszination, andrerseits laden die wabernden Klänge auch zum entspannten Wegdriften ein.
Während das ARGE-Urgestein Raditschnig diese Dualität mit einem Partner auch im Auftragswerk „Zwischen“ für Cello, E-Cello und Zuspielungen eingeht – hier mit Peter Sigl – braucht Alexander Bauer als frisch gebackener Kompositions-Student ein Streichquartett (Michaela Girardi, Jutas Jávorka, Peter Sigl, Alexandra Lechner), einen Midiflügel, elektronische Zuspielungen und ein großes Motto für sein Stück „außer Sicht. vergehen und werden“.
Nichts weniger als die biologischen Vorgänge des menschlichen Körpers während des Sterbeprozesses sind der mentale Impuls für die Struktur der Komposition. Das allmähliche Verenden von Bewegungen (auch sichtbar, wenn dem noch vor sich hintastenden Midiflügel dämpfendes Material in den offenen Körper gestopft wird) lässt zunächst die Assoziation zur Abschiedssinfonie entstehen.
Während Haydn aber zur klassischen Verarbeitung eine simple Besetzungsidee umsetzt als vorgeschichtlich zu verstehende Gewerkschaftsaktion, ist das unterschiedliche Erlöschen von Prozessen für Bauer der auskomponierte Vorgang. Ob man das Bild des Absterbens auch mitvollziehen will, sei der autonomen Entscheidung des Hörers anheim gestellt. Spannend ist jedenfalls die Arbeit der Programmierung, die so einen Abend zur Begegnungszone von Personen und Ideen werden lässt. Da treffen sich ein versierter Doyen und ein Jüngling aus der heimischen Szene mit einem Gast, nähen sich in ihr Wesen ein und teilen es miteinander und ihren Musikern und finden einen mentalen Faden, der ihre Ergebnisse verbindet und vor Ort entsprechend inszeniert wird.