Blanker Horror im Tal der Tränen
MOZARTEUMORCHESTER / MATINEE
10/11/14 Reich an soziohistorischen und psychologischen Facetten sind Schostakowitschs 10. Symphonie und Tschaikowskis Klavierkonzert in b-Moll allemal. Ernsthaftigkeit, virtuoses Brillieren und ein Sich-Einlassen in wehmütige Tiefen der russischen Seele sind gefragt, um in die metaphysischen Sphären vorzudringen. Das Mozarteumorchester versucht sich an russischer Selbsttherapie.
Von Stefan Reitbauer
Als wertlos und völlig unspielbar bezeichnete Nikolai Rubinstein das 1. Klavierkonzert in b-Moll von Piotr Iljitsch Tschaikowski. Ein oder zwei Seiten seien vielleicht wert gerettet zu werden, den Rest müsse man vernichten oder neu komponieren. Der spätere durchschlagende Erfolg dieses Werks war der noch jungfräulichen Originalkomposition keineswegs von Beginn an beschieden. Erst in Deutschland, den USA und später dann auch in Moskau begann die zögerliche Entwicklung zu einem oft gespielten Klassiker des Klavierkonzertkanons.
Die junge amerikanische Pianistin Claire Huangci, ausgebildet in Philadelphia und Hannover, ist nun eher zart und fragil von Gestalt, ein Klischeebild junger asiatisch-stämmiger Frauen. Dementsprechend groß ist die Überraschung, als die feingliedrigen Hände mit unglaublicher Vehemenz und Energie das monumentale Anfangsthema des ersten Satzes in die Tasten hämmern. Über siebeneinhalb Oktaven erstrecken sich die effektvollen Klänge im Orchester und am Klavier. Alle Hebelwirkungen ausnützend, katapultiert sich die Pianistin unzählige Male aus ihrer sitzenden Position. Mutig und kompromisslos zeichnet sie im genauen Zusammenspiel mit dem Orchester Tschaikowskis mächtige Tongebilde nach und hat dabei Auge und Ohr für die Mitmusizierenden.
Herausfordernd scheint es, aus den bruchstückhaften Fragmenten des langen Kopfsatzes, die wie einzelne Erzählungen aus der Partitur aufsteigen, ein Ganzes zu formen. Nicht immer gelingt Constantinos Carydis am Pult diese Übung vollständig, so manche Themenvariation verbleibt mit fragender Miene im musikalischen Getümmel orientierungslos hängen. Effektvoll ist diese verbindungsfreie Aneinanderreihung einzelner Phrasen trotzdem, ob nun beabsichtigt oder nicht.
Bei allem Glanz zu Beginn und im virtuosen dritten Satz, gelingt es den Ausführenden gut, die traurige, sentimentale und melancholische Grundstimmung des Konzerts herauszuarbeiten. Bei mancher Passage möchte man schlicht dazuweinen. Der hypersensible, manisch-depressive Komponist kann seine Traurigkeiten und Verzweiflung in keinem Takt verleugnen. Grenzenlose Wehmut und poetische Langsamkeit im Andantino simplice zelebrieren Huangci und das Orchester geduldig und intensiv. Der furiose Schlusssatz mündet in einem mitreißenden Finale. Die sehnsuchtsvollen Klänge ukrainischer Bauernlieder überdauern das Getöse jedoch bei weitem.
Düster und traurig tönt das mystische Unisono der tiefen Streicher im bedrückenden Moderato der 10. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Mag man dem Biografen Solomon Wolkow Glauben schenken, skizziert der Komponist in diesem bedrückenden Werk eine Abrechnung mit dem Stalinismus, fand doch die Uraufführung kurz nach dem Tod des Diktators statt, obschon die Partitur längst fertiggestellt war. Der Musikwissenschaftler Bernd Feuchtner bezeichnet den Kopfsatz als „Bild des Wahnsinns“. Fratzenhaft schwebt das Konterfei Stalins im brutalen Scherzo über dem Orchester. Im dritten Satz vertont Schostakowitsch seine eigenen Initalen: C-D-Es-H, später erklingt auch der Name einer unglücklichen Liebe, seiner Schülerin Elmira. Besonders hervorgehoben sei an dieser Stelle Zoltán Mácsai, Solohornist des Mozarteumorchesters, der dieses Motiv (E-La-Mi-Re-A,) zwölf Mal einwandfrei intoniert, zum Teil im sehr beeindruckenden Pianissimo. Überhaupt wachsen sämtliche Bläser in diesem äußerst anspruchsvollen Werk über sich hinaus. Carydis dirigiert konzentriert und vergisst keinen einzigen Einsatz, er führt als Fels in der Brandung durch die virtuosen Passagen.
Dringt bei Tschaikowski in erster Linie Melancholie und Sehnsucht durch die mächtigen Klänge und die zart kontrapunktierenden Feinheiten, so besticht die Interpretation von Schostakowitschs Symphonie neben ihrer tiefen Traurigkeit insbesondere durch die Unheimlichkeit der Komposition, das Hervorarbeiten eines Abbilds des Schreckens und Grauens. Tschaikowskis tränenreiche Motive sind Wehmut, Schostakowitschs schrille Tänze und Märsche der blanke Horror. Das Mozarteumorchester brilliert - eine vielversprechende Pianistin zur Seite – mit zwei höchst intensiven Interpretationen und unbarmherziger Hingabe zur Traurigkeit.