Besser nicht wie ein Muezzin singen
FEUILLETON / MUSIKGESCHICHTE / GRADUALE NOVUM (2)
12/09/11 Die Mönche von Heiligenkreuz sind nicht von ungefähr mit ihrem Choralgesang auf Spitzenplätze im CD-Verkauf vorgerückt. Was ist das Typische am Gregorianischen Choral? Warum spricht diese Musik so viele Menschen auch heute noch an?
Von Reinhard Kriechbaum
und Heidemarie Klabacher
Die mönchischen Komponisten in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts zielten auf die unmittelbare Wort-Ton-Deckung und vor allem auf die Interpretation geistlicher Inhalte durch die Musik. Das ist die bis heute wirkende Kraft des Gregorianischen Chorals – auch wenn die wenigsten heutigen Hörer darüber nachdenken, wovon die charttauglichen Mönche vom spanischen Burgos oder vom Stift Heiligenkreuz im Wienerwald eigentlich singen.
Dazu Franz Karl Praßl, einer der Herausgeber des „Graduale novum“ und Gregorianik-Professor an der Grazer Musikhochschule, sagt pointiert: „Man kann den Choral nicht ohne Effekt auch nach Art eines Muezzin singen, das hat sein Publikum. Mit liturgischer Rückbindung und damit mit dem ursprünglichen Kontext hat es dann freilich nichts mehr zu tun.“ Gregorianik sei idealtypische Überführung von Text in Musik also. Sich darauf einzulassen, ermuntert das Graduale novum.
„Wir können zwar aufgrund der historischen Entwicklung (also wegen der rein mündlichen Überlieferung ab dem 8. Jahrhundert, Anm.) keinen 'Urtext' bieten, wohl aber eine Version, die methodisch gut abgesichert den Ursprüngen am Nächsten liegt“, erklärt Franz Karl Praßl.
Warum wurden die Melodien im Lauf von 1250 Jahren überhaupt verändert? Ein etwas schiefer Vergleich: Man stelle sich Homer und dessen „Illias“ und „Odyssee“ vor. Den Text zunächst ohne Schrift „hinüberzubringen“ war schon schwierig genug. Und dann noch die Melodien dazu, zuerst ohne Notenschrift …
Eine Fülle von Vortragsanweisungen, wie sie vor allem die St. Gallener Neumen bereitstellen, sind schon durch die „Erfindung“ der Notenschrift auf Linien verloren gegangen. Dass die Gregorianik als lebhafter deklamatorischer Gesangsstil, als musizierte Rhetorik, schon mit dem Niederschreiben eigentlich verfälscht wird, das hat schon Godehart Joppich (eine der Galionsfiguren moderner Choralpraxis in Deutschland) betont. Nach dem Konzil von Trient (1545 bis 1563) wurden die mittelalterlichen Choralmelodien im Sinne der Renaissance zum Teil recht entscheidend „begradigt“, geglättet. Komponisten vom Rang eines Palestrina waren beteiligt, um diese „Editio Medicaea“ zu erarbeiten: gut gemeint, aber eben ganz weit weg von der ursprünglichen, frühmittelalterlichen Intention. Die war ganz nah am biblischen Wort.
Es macht (hoffentlich) neugierig, was für Botschaften sich in den Neumen-Kürzeln verstecken. Franz Karl Praßl: „Vielleicht hilft das neue Buch auch, die Scheu mancher Wissenschaftler vor dem Studium der adiastematischen (linienlosen) Notation zu überwinden und in die Welt der ältesten europäischen Kunstmusik einzutauchen.“ In drei unterschiedlichen Notenschriften sind die Melodien notiert: Die Quadratnoten (auf vier Linien) verraten die exakten Tonhöhen. Über diesem Liniensystem stehen die Metzer Neumen, darunter die St. Gallener Neumen.
Ein Defizit freilich: Es gibt keine deutsche Übersetzung im Buch, die muss man schon aus der Bibel holen. Das wiegt durchaus schwer in einer Zeit, da der Lateinunterricht in den Schulen stark zurückgedrängt wird.