Die Banlieus lassen grüßen
ORGEL+FILM / DER GLÖCKNER VON NOTRE DAME
13/11/19 Etwas hat schon nicht sein dürfen, als der cineastische Horror laufen lernte: ein Unhappy-End. Und so liegen sich am Ende des 1923 uraufgeführten Stummfilms Der Glöckner von Notre Dame Esmeralda und der Schönling Phoebus in den Armen, während Quasimodo in der Glockenstube sein Leben aushaucht.
Von Reinhard Kriechbaum
Im Ernstfall gehen eben Literatur und Film getrennte Wege. Bei Victor Hugo endet Esmeralda trotz des Einsatzes von Quasimodo am Galgen. So etwas durfte auf der Leinwand nicht sein, schon 1923 nicht.
In der Stummfilm/Orgel-Reihe der Stiftung Mozarteum war am Dienstag (12.11.) also Der Glöckner von Notre Dame zu genießen, jenes Meisterwerk, mit dem Regisseur Wallace Worsley für geraume Zeit das Genre Monumentalfilm nachhaltig prägte. Die cineastische Orgel-Reihe im Großen Saal des Mozarteums ist gut eingeführt und spricht, so scheint's, einen überschaubaren, aber eingeschworenen Publikumskreis an. Natürlich geht man wegen des wunderbaren Musikers Dennis James hin, diesem Orgenisten mit dem fulminanten Gefühl fürs filmische Timing. Er versteht sich drauf, die ehrwürdige Propter-Homines-Orgel im Großen Saal klanglich in einen Kino-Wurlitzer der 1920er Jahre zu verwandeln. Im Falle des Glöckners von Notre Dame spielte Dennis James aber in der Hauptsache den symphonischen Applomb der französischen Orgelromantik aus. Dass er ein temperamentvoller Entertainer, in der obligaten Einführung ein lustvoller Erzähler ist, weiß das Publikum auch zu schätzen.
Roman-Adaptierungen sind heutzutage auf der Theaterbühne gelebter Alltag (wahrscheinlich werden dort derzeit mehr Roman-Dramatisierungen präsentiert als originale Bühnenstücke). Im Kino war solches seit Anbeginn gang und gäbe. Das Spannungsfeld zwischen Vorlage und (meist erster) filmischer Metamorphose zu beobachten, ist auch ein guter Grund, sich diesen Stiftungs-Zyklus zu geben.
Das Besondere am Glöckner von Notre Dame: Victor Hugos Roman eignet nicht wenig Gesellschaftskritik. Die unterschiedlichen Handlungsstränge erhellen, natürlich aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts, zeitlose Spannungen zwischen Arm und Reich, zwischen Entrechteten und dem Establishment (mit einem Hang zur Decadence). Männer aller Sozial- und Gesellschaftsschichten sind hinter der gutherzigen Esmeralda her, die schiere Verzweiflung packt, wenn Quasimodo im finalen Showdown mit fast kindischem Vergnügen Steinblöcke auf den Mob wirft, der sich dran macht, die Kathedrale zu plündern. Die heutigen Banlieus lassen grüßen.
A propos Stein und Schwerkraft. Quasimodo (Lon Chaney) trug einen künstlichen Buckel aus Gips, der angeblich zehn Kilo wog. Und die künstliche Warze ober dem rechten Auge soll Lon Chaney gar einen Teil der Sehkraft gekostet haben. Dennis James hat bei weitem nicht alle Storys erzählt um diesen Film.
Erstaunlich, wie präzise die Handlungsstränge der Romanvorlage in den kurzen Szenen umgesetzt sind. Mit dem rasanten Schnitt, vor allem aber mit seinem Talent, Gesellschaftskritisches in scheinbar burleske Nebensächlichkeiten zu fassen und so greifbar zu machen, hat Regisseur Wallace Worsley damals die Latte sehr hoch gelegt. Und die Szene, wenn sich Quasimodo die Fassade von Notre Dame runterhantelt, sich über gotische Wasserspeier schwingt, Säulen und Heiligenfiguren hinunter rutscht – dieser waghalsige Stunt hat das Uraufführungs-Publikum gewiss den Atem anhalten lassen.
Übrigens: Die Uraufführung fand nicht in einem Kino statt, sondern auch in einem Konzertsaal, auch mit großer romantischer Orgel: in der New Yorker Carnegie Hall.