Die Tür zum Paradies stand weit offen
MOZARTEUMORCHESTER / SONNTAGSMATINEE
11/11/19 Die letzte Posaune war das Schlagwort, graphisch aufgepeppt mit einem Sensenmann – und dann das: Streichorchester-Töne vom Feinsinnigsten vor der Pause der Sonntagsmatinee (10.11.) im Grußen Festspielhaus...
Von Reinhard Kriechbaum
Zwei Symphonien von Mieczyslav Weinberg – die zweite und die vorletzte,einundzwanzigste – des polnisch/russischen Meisters, dessen man sich seit einigen Jahren dankenswerterweise erinnert – hat Mirga Gražinytė-Tyla auf CD eingespielt. Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, Gideon Kremer und dessen Kremerata. Als der Bayerische Rundfunk diese Aufnahme vorstellte, empfahlen die Kollegen, diese Musik am besten „mit Kopfhörern, die Hand am Lautstärkeregler“ zu hören, „um im Bedarfsfall auch den leisen, feinen und fernen Klängen hinterherzuhorchen“.
Im Großen Festspielhaus hat Mirga Gražinytė-Tyla die Zweite Symphonie mit dem Mozarteumorchester hören lassen – waren auch ohne Kopfhörer alle ganz Ohr. Ein greifbar zur Konzentration verführtes Publikum. Es ist ja in diesem Werk so, als ob man mit einem Vergrößerungsglas edelste Kammermusik betrachtete. Oft spielt nur eine Instrumentengruppe, dann wieder zwei Stimmführer. Wenn Bratschen und Violoncelli unisoni anheben, ist das eine Melodie schier von Mahler-Dimension, die abgelöst wird von schwebend-irisierenden Flusen der Ersten Geigen. Man könnte das durch alle Sätze deklinieren: Leise bohrender Expressionismus verwandelt sich wie unter der Hand in Klangbilder, die man ohne Scheu in die Kategorie „himmlisch“ einordnen möchte. Ein vielfach gebrochener Weg vom Schatten zum Licht, der so gut wie ohne Forte an die dem Konzert das Motto schenkende „letzte Posaune“ denken lässt. Ein Detail nur: Die Tanzrhythmen (die schon den Eröffnungssatz nachhaltig mitbestimmen) schleichen sich erst quasi durch die Hintertür in den Finalsatz, die Sache gerät doch alsbald zum Furiant, doch nach mannigfaltigen Stimmungs-Winkelzügen findet die Symphonie doch einen ätherisch-lichten Ausklang, in dem der Konzertmeister ein nachhaltiges Wort mitredet. Ein Extra-Applaus für Frank Stadler und seine Stimmführer-Kollegen.
„Dieses Album wird lieben, wer Schostakowitsch und Pärt mag“, hieß es im bayerischen Rundfunk noch. Stimmt und ist doch ein wenig ungerecht. Mieczyslav Weinbergs Musik erinnert an dies und jenes, aber sie hat stets ihren ganz eigenen Stil. Anstatt über Vorbilder sollte man an diesem Werk besser nachdenken darüber, wie schön auch vergleichsweise „neue“ Musik (Weinbergs Zweite entstand in den Jahren nach 1945) sein kann und darf, ohne auch nur in einem Takt die Grenze zum Kitsch auch nur zu berühren.
Ein intensives Erlebnis, auf das Mirga Gražinytė-Tyla in der Sonntagsmatinee Ein deutsches Requiem von Brahms folgen ließ. Ihr Brahms-Bild ist nie dicklich, die Dirigentin setzt auf feines Lineament. Tod, wo ist dein Stachel? In dieser Interpretation überwunden. Die „mit Freuden ernten“, da dachte man eher an eine Schar von Seelen, die ohne Bodenberührung dem himmlischen jerusalem entgegen eilen. Der Salzburger Bachchor war in dierser Wiedergabe ganz aufs Kantable getrimmt, weniger auf Textverständlichkeit. Trotzdem oder gerade deswegen: Passasgen, die man als markig springende Fugati im Ohr hat, kamen mit herausragender Delikatesse. Wie sich der Chor-Alt und die Tenor-Kollegen im „Selig sind die Toten“ die Melodie übergaben, war ganz wundersam, so wie der Chorklang insgesamt.
In einem so luziden Umfeld konnten (als Einspringerin) Robin Johannsen (Sopran) und der Bariton Günter Haumer ihre Argumente so unangestrengt wie in einem Klavierlied vorbringen. Nein, der Sensenmann gab nur die Graphik ab zu dieser Mittagsstunde: Die Tür zum Paradies stand weit offen.