Der Swing der ungebrochenen Hoffnung
LEONARD BERNSTEIN / MASS
12/11/18 Was für ein Effekt, wenn plötzlich der Street Chorus durch den Zuschauerraum herein wirbelt, mit seinem Halleluja im Sound unverschämt knalliger Marschmusik amerikanischer Brassbands aufs Podium stürmt, sich eine Schneeballschlacht aus Papierknäueln liefert und mit Kazoo die freche Melodik unterstreicht.
Von Reinhard Kriechbaum
Da könnte der eigentliche Spielmacher – der Priester/Zelebrant ist die Haupfigur – gleich zusammenpacken. Es sollte ihm klar sein, dass er mit frommen Sprüchen, bringt er sie spirituell auch noch so glaubwürdig über Lippen, nicht durchkommt...
Statt Rokoko-Engeln also eine massive Zusammenrottung von Schlagzeug und Jugendchören. Statt der hierorts „handelsüblichen“ Kirchenmusik von Haydn über Mozart bis Schubert eben keine Messe, sondern „Mass“, Leonard Bernsteins „Theaterstück mit Gesang, Spiel und Tanz“ im Großen Festspielhaus. 1981 wurde das Werk in der Wiener Staatsoper szenisch produziert. In Salzburg hat sich ihm zuletzt die Philharmonie Salzburg gewidmet, aber das ist auch schon wieder fast zehn Jahre her. „Mass“ ist ja so ur-amerikanisch. Die Vermusicalisierung einer katholischen liturgischen Handlung ist herausfordernd, auch nach einem halben Jahrhundert noch.
Umso toller, wenn es wirklich mal „zur Debatte“ gestellt wird, noch dazu in einer Aufführung - semi-szenisch im Großen Festspielhaus – die nicht nur gut „gemeint“, sondern vor allem exzeptionell gut gemacht ist.
Den Street Chorus, aus dem heraus anspruchsvolle solistische Statements zu besetzen sind, wurde handverlesen gecastet. Eine solche Truppe ist jeder Musicalbühne zu wünschen. Für Rock- und Blusesband hat man ebenso die geeigneten Leute gefunden, wie für die Chorparts im Oberstufenchor und Jugendchor des Musischen Gymnasium einsatzfreudige und begeisterungsfähige Menschen. Was für bleibenden Eindruck müssen die beiden Aufführungen bei den mitwirkenden Schülerinnen und Schüler hinterlassen.
„Mass“ also: Tönende Blasphemie, als die das Stück bei seiner Uraufführung 1971 auch von aufgeklärteren Kirchenkreisen angesehen wurde? Die Auftraggeberin Jackie Kennedy und der damals amtierende Richard Nixon waren der Uraufführung aus Protest fern geblieben. Leonard Bernstein hat sich ohne Zweifel höchst ernsthaft und aufmerksam mit der katholischen Liturgie und ihren Texten auseinandergesetzt. Unterstellen wir einmal, dass er sogar die damals brandneuen Musik-Texte des Konzils gekannt und nochmal durchdacht hat. Der „Zelebrant“ wird im Zuge dieser „Liturgie“ mit vielfältigen Stimmen aus dem Volk konfrontiert. Blumenkinder, Freidenker, vom Vietnam-Krieg angewiderte junge Leute stellen bohrende Anfragen. Sie hinterfragen den Ritus und fordern ihr Ich ein. „Give me a choice, I never had a choice“, singt einer.
Rasch gerät der Priester in die Defensive, nicht nur ob der Formalismen des Ritus. Er erlebt ruinöse Selbstzweifel. Dass er laut Libretto am Ende die liturgischen Gefäße zerstört, wurde in der halbszenischen Salzburger Aufführung nicht groß herausgezeichnet. In „Mass“ zitiert Bernstein immer wieder die knapp fünfzehn Jahre zuvor entstandene „West Side Story“. Hier wie dort muss es erst zur Zerstörung kommen, bevor die Utopie vom Frieden eine Chance hat, auch nur gedacht zu werden.
Nach bald einem halben Jahrhundert sollten sich vielleicht Theologen mit aktuellen Argumenten über „Mass“ hermachen. Für die Sänger und Musiker ist die Sache ohnedies klar: Bernsteins Musik ist deshalb packend, weil sie so raffiniert zwischen lautstarkem offensiven Pop und leiser Spiritualität irrlichtert. Was plakativ, ja frivol daher kommt, wird wie im Handumdrehen abgedämpft, das harte Blech weicht sanftem Streichersound. Stilkapriolen zwischen Populärmusik, damaliger Avantgarde und Romantizismen sind nie Selbstzweck, sonder unmittelbar am Text festgemacht.
Dass das Eine wie das andere glaubwürdig und mit Perfektion umgesetzt wurde, dafür sorgte mit unbestechlichem Rhythmusgefühl Riccardo Minasi am Pult des Mozarteumorchesters. Beeindruckend, wie Caspar Richter den Street Chorus auf Ensembledisziplin eingeschworen und seine Mitglieder typen- und stimmgerecht zu solistischen Hochleistungen geführt hat.
Braucht die Rolle des Zelebranten einen geeichten Opernsänger oder einen Musical-Allrounder? Der norwegische Tenor Yngve Gasoy Romdal ist letzteres. Er zeichnet ein differenziertes Rollenporträt von salbungsvoller Sanftmütigkeit und Selbstgewissheit bis hin zum fast selbstzerstörerischen Show-Down, aus dem ihn Christian Ziemski (ein Florianer Sängerknabe) mit engelsgleichem Sopran heraus holt.
Mutmaßen wir mal: Würde „Mass“ heutzutage in den USA uraufgeführt, würde Trump dem Anlass vielleicht auch wegbleiben wie sein ebenfalls republikanischer Vorgänger im Präsidentenamt. „Almighty Father“, der gar nicht knallige Schlussteil, bleibt in seinem 1968er-Optimismus auch heute Vision. Aber viele Versuche wär's wert.