Wider die kirchliche All-Zuständigkeit
SALZBURGER HOCHSCHULWOCHEN
07/08/12 Der freiheitliche, säkulare Rechtsstaat bekennt sich zur unantastbaren Würde des Menschen und tut sich doch schwer, diese zu begründen. Das Verhältnis zwischen Theologie und Politik, Kirche und Staat ist folglich ein Hauptthema der diesjährigen Hochschulwochen, die am Montag (6.8.) begonnen haben.
Sind die (christlichen) Kirchen sozusagen „von Natur aus“ diejenigen, die Rechtsstaat und Einhaltung der Menschenrechte theoretisch untermauern und damit einen Allein-Anspruch stellen? Große Skepsis hegt der evangelische Theologe Friedrich W. Graf. In seiner Eröffnungsvorlesung kritisiert er das „selbstauferlegte ethische Mandat“ der Kirchen, das diese ständig überfordere. Der moralisierende Zeigefinger sei „zum Hauptkommunikationsorgan geworden, dem die Kirchen jedoch selbst nicht gerecht werden“. Wer den moralischen Zustand der Gesellschaft kritisiert, müsse auch selbst Kritik einstecken können. Friedrich W. Graf schließt sich Habermas an, der religiösen Akteuren das Recht auf aktive Mitarbeit im öffentlichen Diskurs zuspricht, doch müssten sich diese an die Spielregeln des demokratischen Systems halten und anderen jene Rechte zugestehen, die sie für sich selbst fordern. Graf fragt: „Warum sollen sich im freiheitlichen Rechtsstaat alle nach der Sondermoral einer Gemeinschaft halten?“
Wie aber kann der absolute Geltungsanspruch der Menschenrechte in einer pluralistischen, ständig im Prozess befindlichen Welt begründet werden? Dazu Erzbischof Alois Kothgasser: „Die Würde von Menschen ist alles andere als fraglos gegeben. Die Zuschreibung einer Würde, die sich jeder parlamentarischen Abstimmung entzieht und die man Menschen deshalb nicht entziehen kann – sie bedarf der Bestimmung eines Grundes.“ Der freiheitliche Rechtsstaat basiert demnach auf einem Grund, den er selbst nicht setzen, sondern dem er nur zustimmen könne. Das „Unverfügbare“ sei einerseits der Raum, in dem sich moderne Verantwortungskonflikte abspielen. Andererseits eröffne sich gerade im Unverfügbaren die Möglichkeit von Freiheit, Entwicklung und Menschenrechten. „Hier wird Theologie politisch – in der Verantwortung des Humanen angesichts seiner Bestreitungen“, so Kothgasser.
Sind also die (christlichen) Kirchen in die Pflicht genommen, die Basis aufzubereiten? Auch das sieht Friedrich W. Graf kritisch: „Kirchen neigen dazu, sich zu allem zu äußern. Doch wer ständig redet, betreibt seine eigene Entwertung. Kirchen neigen oft dazu, sich zu allem und jedem zu äußern. Die Phantasmen der All-Zuständigkeit müssen bekämpft werden. Weniger ist mehr.“
Graf, Professor für evangelische Theologie an der Universität München, geht mit dem Ekklesiologieentwurf von Benedikt XVI., wie ihn der Papst in seiner berühmten Freiburger Rede herausgestellt hat, gar nicht zimperlich um. Der Papst habe in seiner Theologie entscheidende Begriffe und Diskurse der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts entnommen und in seine eigenen Entwürfe integriert. Die Ablehnung der „Volkskirche“ und der „lauen Weihnachtschristen“ sowie das Ideal von Kirche als Gesinnungs- und Überzeugungsgesellschaft seien typisch protestantische Motive, die in der Freiburger Rede wieder auftauchen würden und bereits im 1966 veröffentlichten Ekklesiologieentwurf Ratzingers zu finden seien.
Graf wirft Josef Ratzinger vor, keinen Platz für Außenperspektiven zu haben: „Entweltlichung kann von Benedikt XVI. nur gefordert werden, weil er sich um die Welt nicht kümmert. Jeglicher Bezug auf die soziale Umwelt fehlt in seiner Ekklesiologie. Doch Theologie kann die moderne Gesellschaft nur mit Hilfe der Sozialwissenschaften wahrnehmen.“ Benedikt XVI würde jedoch an der pluralistischen Moderne leiden und Kirche als Avantgarde-Modell einer moralischen Idealgemeinschaft verstehen. (HSW/dpk)