Zeitloses Lehrstück für Jung und Alt
REST DER WELT / MÜNCHEN / HÄNSEL UND GRETEL
28/03/13 Blickt man am Morgen aus dem Fenster, reibt man sich jedes Mal verwundert die Augen. Doch, es ist Ende März. Als ob Nikolaus Bachler den langen Winter vorausgesehen hätte, setzte er in der Bayerischen Staatsoper noch einmal die Märchenoper „Hänsel und Gretel“ auf den Spielplan.Von Oliver Schneider
Musikalisches Oster- statt Weihnachtsmärchen. Nicht mehr in der Generationen von Kindern bekannten Inszenierung von Herbert List, sondern in einer Produktion, die freilich nur für München neu ist. Richard Jones‘ Inszenierung ist eine Koproduktion mit der Welsh National Opera Cardiff. Besser müsste man sagen Übernahme, trägt die Inszenierung doch auch schon 15 Jahre auf dem Buckel. Das merkt man ihr aber nicht an. Benjamin Davis hat sie ordentlich einstudiert, vor allem das letzte Bild. In den ersten beiden Bildern scheint bei der Personenregie hingegen einiges auf der Strecke geblieben zu sein. Zu statisch agieren Hänsel, Gretel und ihre Eltern.
Jones verortet die Handlung zeitlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hänsel und Gretel treiben ihren Schabernack in der weißen Küche in ihrem Elternhaus, das wohl schon bessere Zeiten gesehen hat. Weniger böse als verzweifelt ist die Mutter, wenn sie ihre Kinder zur Strafe zum Beerensammeln in den Wald schickt. Der Wald ist eine surreale Traumlandschaft, wo die hungernden Kinder vom Speisen an einer festlich gedeckten Tafel träumen.
Für Kinderaugen sind die ersten beiden Bilder wohl nicht in erster Linie gedacht. Trotz der vielen jungen Zuschauer ist es erstaunlich still. Der Lärmpegel und die Begeisterung steigen nach der Pause deutlich an, wenn die blonde Hexe – auf den ersten Blick eher eine nette Grossmutter – die Geschwister in ihre Riesen-Showküche im Industriedesign lockt. Das geschieht über einen portalgroßen roten Mund am Bühnenrand. In der Mitte öffnet er sich für die Riesenzunge, auf der sich ein verführerisches Schokotörtchen befindet.
Der Jubel am Ende der besuchten zweiten Vorstellung zeigte, dass „Hänsel und Gretel“, an den Zeitgeist angepasst, auch heute noch Kinder und Erwachsene thematisch packt. Sehenswert und lehrreich ist diese Produktion allemal und vor allem nicht mehr so stark an die Lebkuchensaison gebunden.
Der Abend lebt natürlich nicht zuletzt von den Solisten. In der Beliebtheitsskala zuoberst stand am Mittwoch (27.3.) Rainer Trost als Hexe, der für einmal sein komisches Talent beim Teigmischen und -kneten ausleben darf. Er überzeugt auch stimmlich rundherum, zumal es eine interessante Alternative ist, die Rolle mit einem echten lyrischen Tenor zu besetzen. Tara Erraught als Hänsel und Hanna-Elisabeth Müller als Gretel gefallen mit ihren leichten und warm timbrierten Stimmen. Alejandro Marco -Buhrmester ist ein unüberhörbar Wagner-erprobter Besenbinder, Janina Baechle seine von Sorgen geplagte Frau. Yulia Sokolik lässt als Sandmännchen stimmschön aufhorchen; gespielt wird es von einer mageren Holzpuppe. Golda Schultz ist das ebenso erfreuliche Taumännchen, das am Morgen die Reste des Traumgelages abwäscht. Der Kinderchor der Staatsoper wurde von Stellario Fagone einstudiert.
Bei einer so homogenen sängerischen Leistung und im Wissen darum, dass „Hänsel und Gretel“ von vielen Kindern besucht wird, ist es umso unverständlicher, wenn auf die Projektion von Übertiteln verzichtet wird. Gerade auch deshalb, weil Humperdinck in der Instrumentierung seinem Vorbild Wagner nachgeeifert hat. Auf Übertitel kann man eigentlich nur dann verzichten, wenn am Pult ein Dirigent steht, der die Balance zwischen Bühne und Graben herstellen und auf die Möglichkeiten der Sänger eingehen kann. Das ist bei Tomáš Hanus nicht der Fall; viel zu oft deckt er die Solisten unsensibel zu. Das Staatsorchester musiziert unter seiner Leitung trotz aller Brillanz in den einzelnen Gruppen auch über weite Strecken nicht mehr als routiniert. Dass mehr möglich wäre, ist in der Ouvertüre und in den orchestralen, zugegeben Wagner-nahen Zwischenspielen zu hören.