Wanderstock trifft Taktstock
VERBIER FESTIVAL
10/08/12 Im Wallis an der Strecke zum Großen St. Bernhardpass liegt auf rund 1500 Metern Seehöhe Verbier, der berühmte Wintersportort, der im Sommer ein ebenso berühmtes Festival anbietet. Der Weg ist weit, doch er lohnt sich. Nach den vielen Kehren nach Verbier öffnet sich nahe der Baumgrenze ein atemberaubender 360 Grad-Bergblick. Wenn man gar mit der Seilbahn auf den 3330 Meter hohen Monfort fährt, liegen hier Jungfrau und Mönch, da der Montblanc.
Von Wolfgang Stern
Nicht nur Berg-Spitzen gibt es hier. Seit 19 Jahren findet in solch wildromantischen Umfeld das Verbier Festival statt - das noch immer kaum vom deutschsprachigen Raum registriert wird. In diesem Teil der französisch sprechenden Schweiz merkt man tatsächlich nicht, dass zwei Drittel der Schweizer Deutsch als Muttersprache haben. Im täglich erscheinenden Festival Journal steht kein deutsches Wort.
An 17 Tagen gab es in Verbier heuer rund fünfzig Konzerte. Die Weltklasse – jung und alt – trifft sich hier oben und kann so nebenbei die Gastfreundschaft des Veranstalters genießen. Manche, so etwa ein Mischa Maisky, zählen schon zu den Stammgästen. Neben den Konzerten gibt es noch die Meisterklassen in der Verbier Festival Acandemy, die frei zugänglich sind. Es ist schon interessant, ja sogar oft spannend, zu erleben, wie etwa Zakhar Bron, Ralph Kirshbaum, Sir Thomas Allen, Thomas Quasthoff oder Dimitri Bashkirov mit den Jungtalenten umgehen. Apropos Jungtalente: Da spielte ein junger russischer Geiger am Beginn seiner Lektion derart verblüffend vor, dass der Altmeister Bron und die Zuhörer spontan Beifall gaben. Nur Auserwählte können an diesen Kursen teilnehmen. Und nur Auserwählte – diesmal bewarben sich weltweit in mehreren Auditions 1119 (!) Jugendliche im Alter von 18 bis 28 Jahren – können in beiden Orchestern des Festivals, dem großen rund 100 Musiker umfassenden Verbier Festival Orchestra und dem daraus resultierenden kleineren Verbier Festival Chamber Orchestra, mitmachen.
Vor drei Jahren war noch ein österreichisches Brüderpaar dabei, heute sitzen beide im Orchester der Wiener Philharmoniker. Verbier ist ein Sprungbrett. Wer hier dabei sein kann, profitiert schon sehr viel in der Betreuung durch beste Orchestermusiker und vor allem durch das Einstudieren großer Werke mit bekannten Dirigenten, in diesem Jahr etwa mit Charles Dutoit, Gábor Takács-Nagy, Neeme Järvi, Masaaki Suzuki oder Manfred Honeck.
Zu den großen Dirigenten kommen Stars und solche, die auf Weg zum Starruhm sind. Martha Argerich und Mischa Maisky waren etwa die Meister ihres Faches in Rodion Shchedrins (der Komponist war anwesend) Stück „Romantic Offering“ begleitet vom Festival Orchestra unter Neeme Järvi. Der im Ton an Gidon Kremer erinnernde Geiger Joshua Bell brillierte in Samuel Barbers Violinkonzert.
Erst 21 Jahre alt ist der russische Pianist Daniil Trifonov, Gewinner des Tschaikowsky- und Rubinsteinwettbewerbes 2011, der mit dem zweiten Klavierkonzert von Frederic Chopin seine Visitenkarte abgab. Diesen Namen sollte man sich merken! Martha Argerich ist eine seiner großen Bewunderer – gefolgt von allen, die ihn beim diesjährigen Festival hören konnten. Kennen Sie Jan Lisiecki? – Wahrscheinlich kaum oder gar nicht. 17 Jahre alt ist dieser kanadische Pianist. Sein Auftritt in einer Matinee in der Ortskirche von Verbier mit Werken von Martinu, Chopin, Messiaen und Bach war überzeugend. Wie hingebungsvoll ist sein Spiel. Leidenschaft am Gestalten ist sein Eigen. Ein weiteres Kaliber unter den Pianisten wirkte beim 19. Verbier Festival mit: Alexander Melnikov. Franz Schuberts Wandererfantasie oder die Fantasien op. 116 von Johannes Brahms können kaum besser gelingen. Die Überraschung für 2012 wurde am Nationalfeiertag der Schweiz, dem 1. August, mit einem Gastspiel der afrikanischen Sängerin Angélique Kidjo präsentiert. Zwischen Jazz, Soul und Funk, von Gospelmusik beeinflusst, begeisterte ihr Abend.
Die 17 Tage waren insgesamt bestückt mit großen Namen: So waren noch die Brüder Capucon, Yuri Bashmet, das Hagen Quartett, René Pape, Rolando Villazón, Gábor Bretz, Ilker Arcayürek oder Christoph Prégardien in den Schweizer Alpen.
Wer möglichst rund um die Uhr Musik hören will, der ist richtig in Verbier: Der Tag ist gefüllt mit Möglichkeiten. So kann man schon am Morgen an Meisterklassen der Academy (ab 9.30 Uhr) teilhaben. Um 11 Uhr ist täglich ein Konzert, meist Kammermusik, in der Kirche. Es folgt "Lunch Jazz", ehe es mit dem Meisterklassenangebot weitergeht. Probenbesuche sind ebenfalls eine Möglichkeit. Das tägliche Großkonzert findet um 19 Uhr im "Salle des Combins" - einem Zelt mit 1700 Tribünenplätzen - statt., wo man allerdings Wetterglück haben sollte. Es tut weh, wenn etwa Anton Bruckners 7. Symphonie von Manfred Honeck zweimal durch richtige Regengüsse unterbrochen werden muss. Vor diesen Konzerten gibt es Einführungen.
An der „Nebenfront“ gibt es um 20 Uhr ein Konzert in der Kirche, wo ebenfalls internationale Stars mitwirken. Und wer dann noch immer nicht genug hat, der ist zu einem Nachtkonzert um 23 Uhr in die Kirche eingeladen. Man muss schon richtig planen, wann dazwischen Zeit für ein Essen ist.
2013, zum 20-jährigen Bestehen des Festivals, wird es erstmals ein Verbier Festival Music Camp (7. bis 29. Juli 2013) für die sechzig weltweit talentiertesten Instrumentalisten im Alter von 15 bis 17 Jahren geben. Ein neues Orchester wird somit entstehen. Daniel Harding wurde für dieses Experiment gewonnen. Man kann also Verbier durchaus auch als Talenteförderer ansehen.