Neue Musik. Alter Film.
OeNM / KALITZKE / DIE WEBER
15/06/16 Hunger, Tod und Verzweiflung treiben die Weber in den blutigen Aufstand… Gerhart Hauptmanns „historisches“ Drama über den Aufstand der Schlesischen Weber ist angesichts von Dumpingpreisen und Billiglöhnen so aktuell wie je. - Wie der Stummfilm „Die Weber“ von Regisseur Friedrich Zelnik, den Johannes Kalitzke 2012 neu vertont und radikal ins „Heute“ versetzt hat.
Von Heidemarie Klabacher
Neue Musik, alter Film. Spannend. „Wenn man sich als zeitgenössischer Komponist bei einem Film wie den ‚Webern’ die Frage stellt, wie das Verhältnis von Musik und Bild beschaffen sein soll, tut man dies naturgemäß als einer, der in einer fremden Zeit mit einer anderen Gegenwartserfahrung lebt und dessen Vertonung eines solchen Werkes zwangsläufig vom Horizont heutiger Erfahrungen geprägt ist“, schreibt der Komponist und Dirigent Johannes Kalitzke über seine Stummfilm-Musik auf der Verlags-Site von Boosey & Hawks. „Es war mir daher ein Anliegen, mit den Mitteln unserer Tonsprache eine Art sinfonische Interpretation des Films zu schreiben, und dies vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Parallelen in der Gegenwart, die ihm seine immer noch aktuelle Gültigkeit verleihen.“
Friedrich Zelniks Verfilmung von Gerhart Hauptmanns Bühnenstück im schlesischen Dialekt „Die Weber“ aus dem Jahr 1927 ist eine werkgetreue Umsetzung des Dramas und gilt als eine der besten Hauptmann-Adaptionen der deutschen Filmgeschichte. Johannes Kalitzke hat diesen Stummfilm-Klassiker 2012 neu vertont. Als Grundbausteine seiner Musik nennt Kalitzke die „genretypische Elemente aus der historischen Ebene des Films – Marsch, Spieluhren, Arbeiterlieder oder Choräle – „die dann mit elektronischen und instrumentaltechnischen Mitteln von heute verfremdet und gewissermaßen in einen klingenden Albtraum verwandelt werden.
„Noch heute wirkt der Film, dessen Bildsprache stark von Eisenstein und Pudowkin beeinflusst ist, durch seine stimmige visuelle Gestaltung, entstanden in Zusammenarbeit mit George Grosz, und durch exzellente Schauspieler wie Paul Wegener, Wilhelm Dieterle oder Arthur Kraussneck“, erinnert das Österreichische Ensemble für Neue Musik OeNM in einer Aussendung. „Wenn ein filmbegeisterter und zugleich politisch denkender Komponist wie Johannes Kalitzke ‚Die Weber’ von 1927 neu vertont, packt die Neue Musik ihr reichhaltiges Instrumentarium aus und zeigt, wie sie in einen Film hineinführen kann und ihn zugleich aus seiner Historizität befreit.“
Tatsächlich ist Gerhart Hauptmanns Drama über den Aufstand der Schlesischen Weber anno 1844 angesichts von Dumping-Löhnen und Ausbeuterei - die anno 2016 halt in weit entfernten Länder passiert – so aktuell wie je.
Die legendäre Stummfilm-Verfilmung von Friedrich Zelink entstand 1927. Schon im Jahr zuvor entstand die erste von seither mehreren Hörspielfassungen. 2012 restaurierte die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung den alten Film und fertigte eine neue Kopie an. Johannes Kalitzke hat eine neue Filmmusik dazu geschrieben, die noch im selben Jahr von den Augsburger Philharmonikern uraufgeführt wurde.
„Als Ausgangsmaterial dienen Johannes Kalitzke Elemente genretpyischer Musik wie Arbeiterlieder, Märsche und Volksmusik“, erinnert dazu das OeNM: „Diese Elemente verarbeitet er zu einer komplexen Textur und aktiviert damit die Wahrnehmung des Films, denn die Musik funktioniert sowohl im assoziativen Fluss mit den Filmbildern, wie sie auch die subkutanen Konflikte musikalisch verarbeitet.“ Kalitzkes Musik porträtiere nicht Personentypen, sondern Situationen und deren allmähliche Verwandlung und Verzerrung in ihr Gegenteil. Die Musik zeigt, „wie aus Opfern Täter werden können“. Damit durchstoße die Musik die Oberfläche der filmischen Erzählung und eröffne einen neuen Erfahrungsraum“.
Das OeNM hat sich der Weber in ihrer aktuellen zeitgenössischen Musikfassung im Rahmen einer großen Kooperation angenommen: „Mit diesem Projekt knüpfen wir an die Zusammenarbeit mit dem Collegium Novum Zürich an, die wir 2014 mit dem Projekt ‚De profundis’ erstmals erprobt hatten. Nur durch diese Kooperation ist es möglich, Kalitzkes groß besetztes Werk überhaupt zu realisieren und an mehreren Orten vorzustellen.“