Tönende Riesenschlangen
KULTURVEREINIGUNG / WIENER SYMPHONIKER
19/01/12 Für ihre diesjährige Bundesländertournee unter Leitung von Gastdirigent Marc Albrecht konfrontierten die Wiener Symphoniker Mittwoch mit Brahms und Bruckner zwei zu ihrer Zeit unversöhnliche Welten. Bei Brahms mit von der Partie: der Pianist Lars Vogt.
Von Horst Reischenböck
Nur wenn es um beider Lieblingsspeise Leberknödel mit Sauerkraut ging, haben sie einander verstanden, sonst hatten sie kaum eine Gemeinsamkeit. Im Unverständnis füreinander mögen sie auch durch ihre Fans aufgeschaukelt, bestärkt worden sein. Und doch hat sich in der Beethoven-Nachfolge jeder der beiden auf seine Weise titanenhaft mit dem Vorbild auseinander gesetzt.
Kein Wunder, dass das Erste Klavierkonzert in d-Moll, op. 15, von Johannes Brahms einst Publikum verstörte. Als kaum 20jähriger trachtete er damit in sinfonische Fußstapfen zu treten. Das Stück ist auch heute noch absolut fordernd, für Hörer, noch mehr aber für die Ausführenden. Vor allem, wenn sie wie an diesem Abend die Dramatik, Tragik des mit mehr als 20 Minuten nahezu die Hälfte des Werks bestimmenden, in der Tat majestätischen Kopfsatzes nahezu permanent unter Hochdruck halten. Marc Albrechts hat die Energien schon von den ersten Paukendonnern weg angestachelt, in die sich Lars Vogt am Flügel erst kontrastierend lyrisch einschlich, um dann umso mehr dämonisch aufbegehrend und vollgriffig gemeißelten Widerpart zu leisten.
Lars Vogt behielt auch in den Fortissimo-Passagen der Orchester-Assistenz stets die Oberhand und gab sich nach diesem Meilenstein in der Evolution der Gattung verinnerlicht Brahms’ klingendem Pastell seiner unerfüllten Liebe zu Clara Schumann hin. Feinst in den Schattierungen verinnerlicht, poetisch, ja überirdisch ausgemalt. Umso widerspenstiger stieg Lars Vogt dann in das wiederum stürmische, leicht ungarisch angehauchte Rondo ein, um dessen Hauptthema gezielt an die Mitstreiter auf dem Podium weiterzureichen. Ein bis in letzte Details hinein beachtlicher, ja bewundernswerter Kraftakt, entsprechend bejubelt. Lars Vogt dankte dafür mit Brahms’ berühmtem Tribut an Schubert, dem original für Klavier zu vier Händen gesetzten, vorletzten der Walzer op. 39.
Nach der Pause gewann man mit der gleichfalls in d-Moll stehenden 3. Sinfonie WAB 103 von Anton Bruckner ein tiefer Blick in dessen permanentes „work in progress“. Von diesem Werk bestehen nicht nur drei Ausgaben, sondern obendrein eine vierte Fassung des Adagios (die einst Hubert Soudant mit dem Mozarteumorchester vorstellte). Ivor Bolton hatte sich bei seiner Einspielung der wohl auf Anraten von Bruckners Freunden vor allem im Finale radikal gekürzten Letzt-Version von 1889 entschieden, wogegen sich nun zu Recht die von den einstigen Wagner-Zitaten nahezu vollständig gereinigt „mittlere“ Fassung von 1876/77 durchzusetzen beginnt. Rafael Kubelik oder Nikolaus Harnoncourt haben sie propagiert.
Sie stellt mitunter irritierend Themen wie erratische Blöcke einander kontrastierend gegenüber. Das hat Marc Albrecht am Pult der Wiener Symphoniker ungeschönt zum Ausdruck gebracht, allerdings mit dynamischen Defiziten der Hörner gegenüber der strahlenden Trompetertruppe. Der Ton des Konzertmeisters hat auch oftmals die ersten Geigen dominiert. Ergo nicht ganz so ausgewogen, wie man es von dem Orchester im Ohr hat.