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Mehr ist mehr

KULTURVEREINIGUNG / ORCHESTRE NATIONAL DE FRANCE

17/01/20 Unter dem Titel Julia Fischer spielt Prokofjew spielt Julia Fischer zwanzig Minuten lang Prokofjew. Die restlichen 1,5 Stunden spielt das Orchestre National de France Debussy, Korsakov und Offenbach. Wenn Programmmusik noch funktioniert, dann vielleicht so wie hier.

Von Franz Jäger-Waldau

Wie Programmmusik einmal gewirkt haben muss, ist heute kaum denkbar. Nach ihrem Absterben wurden ihre Formen aufgebrochen und von den eigenen Nachkommen ausgeweidet. Gerade diejenige, die sich bemüht, etwas zu erzählen: Ihr wird langsam die Stimme gebrochen, die Sprache genommen und verpflanzt. Die Organe der selbstständigen Klangerzählung pumpen jetzt als Hintergrundbeschallung in anderen Genres – Programmmusik ist etwas, das heute eigentlich so nicht mehr funktionieren dürfte.

Darum funktioniert sie anders. Das Orchestre National de France muss zunächst eine kleine Umbesetzung gestehen – der Dirigent Emmanuel Krivine wird spontan von Lionel Bringuier ersetzt. Der Musikkörper wärmt sich an Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune (Vorspiel zum Nachmittag eines Faunes) auf. Die idyllische Erzählung folgt Mallarmés gleichnamigem Gedicht: Ein Faun erwacht mit Hangover und überlegt, ob er womöglich vorhin ein paar Nymphen vergewaltigt haben könnte. Alles geht erst nur in Halbtonschritten, dann ist es aber halb so schlimm und er trinkt sich in den nächsten Schlaf.

Dieses Programm schildert das Orchestre National de France so romantisch wie möglich. Zwanzig Menschen husten sich aus zerfetzten Lungenflügen die Seele in den Schoß, dann tritt Julia Fischer zu Prokofjew auf die Bühne.

Anfang des 20. Jahrhunderts legt sich eine Ordnung über die Menschen, die sie zu Massen macht. Ein Orchester der materiellen Vereinheitlichung schleift über Russland. Teile sind einander leichter anzufügen, wenn sie die gleichen Winkel haben, am besten also keine: Dieser grausamen Glätte kann nur mit Chaos entkommen werden. Prokofjews Violinkonzert Nr. 1 op. 19 entsteht am Vorabend der Revolution und geht zuerst bis 1923 darin verloren. Julia Fischer stellt sich im Glitzerpailettenkleid vor das matte Orchester und beginnt, auf dessen Takte einzusägen. Die Solovioline scheint von den Streichern brechen zu wollen und biegt sich in alle Richtungen bis in die Obertonreihe. Prokofjew biedert sich ihr nicht an – Julia Fischer idealisiert ihn nicht.

Wie Debussy erzählt Nikolai Rimsky-Korsakov in Scheherazade op. 35 von einer bezaubernden Romanze: Der Sultan ist eher schlecht drauf und hat die lästige Eigenschaft, einer von den Typen zu sein, die ihre Frauen nach dem Sex ermorden lassen. Scheherazade ist die nächste, aber will den armen Traumatisierten retten, indem sie ihm statt Sex Geschichten bietet – denn solche Männer lieben das. Spätestens hier wird klar, dass das Orchestre National de France den Vorteil hat, das Orchestre National de France zu sein und sich dadurch zu bewahren, jene opulente Musik zu mozartisieren. Außerdem ist Fischer ist nicht mehr da, darum darf die erste Geige nur sitzen; womit sie allerdings am Ende nicht weniger Applaus verdient.

Bilder: KV / Felix Broede KASSKARA; www.harrisonparrott.com / Simon Pauly
Eine weitere Vorstellung heute Abend, 19.30 - www.kulturvereinigung.com

 

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