Nichts für dünnhäutige Leser!
BUCHBESPRECHUNG / DIE WIEDERKUNFT DES WASENMEISTERS
29/02/12 Wasenmeister: In der Millionenshow wäre die Frage nach diesem Beruf vermutlich schon in der sechsstelligen Gewinn-Stufe angesiedelt. Welchem Gewerbe also geht ein Wasenmeister nach?
Von Reinhard Kriechbaum
Oder vorher noch gefragt: Was bewegt eine literarisch und volkskundlich ambitionierte Salzburger Autorin, von Beruf Physiotherapeutin, sich mit einem alten, übel beleumundeten und schon lange ausgestorbenem ländlichen Gewerbe zu beschäftigen? Der Wasenmeister nämlich ist jener, der landwirtschaftlichen Nutztieren, aber auch Hunden und anderen Viechern die Haut abzieht. Schinder ist ein anderes hierzulande gebräuchliches Wort für den Beruf – jedenfalls so lange gebräuchlich und geläufig, solange Tierkörperverwertung noch im bäuerlichen Haushalt, im Dorf praktiziert und nicht an gewerbliche Großunternehmen „ausgelagert“ wurde.
Andrea Nießner hat sich eingelesen in die Materie, sagenhaft gründlich schlau gemacht über ein Gewerbe, dessen Vertreter nicht gerade angesehen waren. Alphabetisch von „Abdecker“ bis „Züchtiger“ reicht die Liste der Be- und Umschreibungen für die Vertreter dieses als unehrenhaft geltenden, aber für Bauernwirtschaft und Ökologie einst wichtigen Berufs. „Ungenannter Mann“ – die Namenlosigkeit teilte der Wasenmeister manchmal mit dem Scharfrichter, und es ist vorgekommen, dass ein und dieselbe Person beide Berufe ausgeübt hat.
Die Autorin ist in ihrer Ahnengalerie auf einen Wasenmeister gestoßen, und das hat sie motiviert zur Recherche. Herausgekommen ist eine imponierende kulturgeschichtliche Materialsammlung, denn von den 368 Seiten ist nur ein Drittel einer literarischen Erzählung – „Realphantasie“ nennt es die Autorin – gewidmet. Der Rest gilt Betrachtungen zum Beruf des Wasenmeisters und, damit verknüpft, reichen Assoziationen rund um den Tod von Tieren. Es geht, ganz sprichwörtlich, wirklich auf keine Kuhhaut, was Andrea Nießner an Wissenswertem und Skurrilem, an Witzigem und Makabrem, an Anekdotischem und Sagenhaftem zusammengetragen hat. Wer einen E-Reader sein Eigen nennt, wird nur milde lächeln beim Wort Pergament und sich auf „Bärenhaut“ gar keinen Reim machen. Da geht es um Schweinshaut, und zwar um eine solche von männlichen Tieren, Saubären eben.
In die Betrachtungen über den Wasenmeister spielen Themen wie Gesundheit und Hygiene hinein, aber auch eine Fülle von magischen Vorstellungen. Wer berufsmäßig mit Kadavern umgeht, den umgibt logischerweise die Aura des Unheimlichen. Von der Tierbestattung zu den Begräbnis-Methoden für Selbstmörder und Verbrecher ist gedanklich nur ein kleiner Schritt, und Andrea Nießner liebt solche assoziativen Rösselsprünge. Vom Hund als „bellender Apotheke“ bis zum Lebertran, von Chimären zur Stammzellenforschung: ein weiter Kosmos dies- und jenseitigen Denkens. Als Leser braucht man manchmal einen guten Magen, Dünnhäutige sollten den einen oder anderen Abschnitt überblättern.
Und a propos „Arme Haut“: Eine solche war in der griechischen Mythologie schon der flötenspielenden Hirten Marsyas, der sich auf einen Musikwettbewerb gegen Apollo eingelassen hat. Er hat zwar gewonnen gegen den auf der Kythara klimpernden Gott, aber der hat ihm dafür höchstpersönlich die Haut abgezogen …
Andrea Nießner, „Arme Haut. Die Wiederkunft des Wasenmeisters. Mit einem Thesaurus zu Tier- und Menschenkörpern“. Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2011. 368 S., 28.- Euro - www.bibliothekderprovinz.at
Bilder: Bibliothek der Provinz
Morgen, Donnerstag (1.3.), ist Andrea Nießner um 10.30 Uhr Gast beim „Literaturfrühstück“ im Literaturhaus. „Wie immer bei Kaffee und Gebäck“, verspricht das Programm. Mahlzeit, angesichts dieses Themas!