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Im Biotop der Ausdruckskraft

JAZZFESTIVAL SAALFELDEN

01/09/14 Das 35. Jazzfestival Saalfelden fesselte mit einem ausgewogenen Mix aus kreativen Freigeistern – gekrönt von einem Auftritt Archie Shepps am Sonntag.

Von Christoph Irrgeher

Und jährlich grüßt das Murmeltier. Christoph Huber, Chef des Wiener Porgy & Bess, hat sich auf der Terrasse bereits in ein Gespräch vertieft; im Inneren der VIP-Zone wiederum, wo die immergleiche Dame bereits freundlich Bier zapft, verteilt der Mann vom Martinschlössl seine gelben Flyer aus Wien-Währing; und während der serbische, zu späterer Stunde gern auch tanzfreudige Festivalmacher im Erdgeschoß des Kongresshauses eintrudelt, ist die Journalisten-Clique fast schon vollzählig versammelt. Ja, es ist Freitagabend, kurz vor 19 Uhr am letzten Wochenende im August. Die Jahreszahl allerdings – sie verschwimmt im Trüben des Déjà-vus. Es beschleicht einen an diesen Freitagen der Eindruck, in den vergangenen 365 Tagen einen gewaltigen Kreis gedreht zu haben – mit dem Ergebnis, am Ausgangspunkt wieder ein Stück älter anzukommen.

Nun ist das Jazzfestival Saalfelden natürlich nicht als eine Art Memento Mori gedacht, es kann diesen Anschein auch nur im Lichte seiner Rahmenbedingungen erwecken. Im Gegensatz zur ewigen Wiederkehr seiner Kundschaft erweist sich das Festival selbst auch in seinem 35. Jahr als ein Kind des Wandels. Zwar bleibt die Intendanz (Michaela Mayer und Mario Steidl) dem Grundsatz treu, die Bühne mit neuen Projekten und alten Meister der gehobenen Improvisationskunst zu füllen (oder kurz gesagt: mit allem, was Jazzhasser so richtig fertig macht). Die konkrete Darreichungsform aber variiert von Jahr zu Jahr. Diesmal ist sie besonders erfreulich: Während manches Festival-Wochenende der Vergangenheit auch schon an Unwuchten litt – hier ein Übermaß an Free Jazz, dort zu viel der Elektronik –, entpuppt sich das heurige Programm als ausgewogener Mix. Dabei stellt sich nicht nur im Rahmen des Gesamtaufgebot Balance ein, sondern oft genug auch innerhalb der einzelnen Konzerte.

Ein leuchtendes Beispiel ist Amir ElSaffar. An sich leitet der US-irakische Trompeter ein Quintett klassischen Zuschnitts: Bass, Schlagzeug und Klavier arbeiten ihm und dem furiosen Saxofonisten Ole Mathiesen zu, die Bläser verlauten ihre Themen gern in Parallelführung. Der Melodienstrom ist aber ebenso aus den Quellen des Jazz gespeist wie orientalischen Einflüssen. Auf der Basis exotischer Skalen verdichtet sich das Geschehen immer wieder zu Klanggestöbern von brennender Ekstase, gut austariert mit samtigen Passagen in vertrackten Takten.

Philipp Nykrin kombiniert anders: Der Salzburger Pianist verleibt dem Jazz seit seinem Debütalbum („Open-Ended“, 2007) jene erdschweren Grooves ein, die ihren Tummelplatz in den Loops des Hip-Hop haben. Nykrin also wurde heuer die Ehre zuteil, die 15 Konzerte der Hauptbühne mit einer Auftragskomposition zu eröffnen, und er nimmt dieses Wort ernster als manche Vorgänger. Vielleicht etwas zu ernst: Es hätten diese Nummern nicht gar so Notenlinien-dominiert verlaufen müssen, hätten die beiden Bläser-Asse (Mario Rom, Fabian Rucker) durchaus öfter im Sinne eines freien Spiels gezückt werden können. Aber das ist Jammern für Verwöhnte. Nykrins Solisten lehnen sich inbrünstig aus ihren Improvisationsfenstern; die Klanggebäude fesseln durch rhythmische Vexierspiele.

Ein schöner Kontrapunkt, danach Marc Ribot auf den Plan zu bitten – gerade, weil sich der Gitarrist diesmal so hinterfotzig schlicht gibt. Der berüchtigte Dekonstrukteur stellt sich mit einer Wanderklampfe und einer Portion Ironie in den Dienst des Protestsongs. Im (mutmaßlichen) Bewusstsein einer schmächtigen Gesangsstimme adressiert er seine Wut an so absurde Ziele wie den Weihnachtsmann („Santa Claus is a motherfucker“) oder Brücken („You think they are symmetric… but they’re not“). Gewiss – das naiv dargebrachte Liedgut der Bürgerrechtsbewegung hätte er sich schenken können. In seinen humorigen Momenten aber war das ein hübsches Gegengift zur Tendenz des avancierten Jazz, sich allmählich so bierernst zu gebärden wie die zeitgenössische Musik aus dem Hochkultursektor.

Apropos. An die erinnert vor allem der Auftritt von Kaze am Samstag, aber im positiven Sinn. Die Musik des japanisch-französischen Quartetts beginnt so skrupulös wie eine Komposition von Mark Andre – nämlich aus dem Nichts. Gut 20 Minuten später wird man festzustellen, dass dies im Sinn eines Crescendo-Ungetüms geschah. Ein Klirren, Klingeln und Rascheln wächst allmählich zum unguten Thriller-Soundtrack heran; der wiederum schwillt mit reichlich Trompetenflatterzunge (Christian Pruvost) und wüstem Klaviergewusel (Satoko Fujii) zu einem singulären Klangsturm an. Unverhofft ballt er sich zum Unisono-Blitz – und erlischt.

Reichlich Ambition, aber kaum Ertrag leider bei Henry Threadgill: Der Avantgarde-Grande ist im Programmheft als Dirigent ausgewiesen, sein Auftritt als Hommage an Butch Morris. Im Vorjahr verstorben, hatte dieser ein gestisches Repertoire entwickelt, um die Improvisationsströme seiner Musiker zu lenken. Threadgill jedoch tut fast nichts. In weißem Leinen wie ein Schlafwandler anzusehen, schleicht er ab und zu vor das rumorende Septett; ansonsten hält er am Bühnenrand Maulaffen feil. Entsprechend blindwütig dröhnt das Ganze.

Deutlich fesselnder Sylvie Courvoisier, die ihr Ungestüm in sinnstiftende Strukturen bettet. Eine bessere Botschafterin hätte sich das Reich des Klaviertrios in Saalfelden nicht wünschen können. Meist sind es kleinteilige Motive, an denen die Schweizerin ihre Virtuosen-Muskeln wärmt – dann lässt sie ihnen in Cluster-gespickten Soli die Zügel schießen.

Den meisten Jubel kassierte am Sonntag freilich Archie Shepp im Zusammenspiel mit dem kaum minder legendären Joachim Kühn. Zwar kann man über eines nicht hinwegschreiben: Dem Saxofon des 77-jährigen Shepp (dem Vernehmen nach jüngst am Kiefer operiert) entsteigen leider windschiefe Noten, oft um rund einen Viertelton verrutscht. Nichtsdestotrotz sind seine hochschnellenden, in krächzigen Trillern gipfelnden Linien immer noch von unbändigem Ausdruckswillen gespeist. Und: Sie finden in Kuhns Trio, das mit einem drückenden 6/4-Groove startet, den optimalen Nährboden. Es entfaltet sich da ein dampfiges Biotop der Eindringlichkeit, aus dem bald Shepps Kraftvektoren ragen, bald Kuhns irrlichternde Klavierlinien oder der herbe Gesang des Marokkaners Majid Bekkas – ein würdiges Finale für einen starken Festivaljahrgang.

DrehPunktKultur-Gastautor Christoph Irrgeher ist Redakteur der Wiener Zeitung - www.wienerzeitung.at
Bilder: Jazzfestival Saalfelden / Peter Moser

 

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