Der Kopf des Paul Orlac und das Innenleben des Klaviers
ASPEKTE FESTIVAL / BLOG 3
23/04/18 Was für eine Horrorvorstellung: Als Schauspieler die Stimme, als Fußballspieler die Füße, als Philosoph den Verstand, als Komponist das Gehör – oder als Konzertpianist die Hände zu verlieren! Allein der Gedanke daran reicht aus, um sich wie in einem Alptraum zu fühlen, in Verzweiflung zu geraten oder aus Angst vor einem tief reichenden Identitätsverlust zu erschauern.
Von Prof. Claus Friede – Hamburg, Riga
1924. Das ist das Jahr, in dem Lenin stirbt, die Türkei die Abschaffung des Kalifats beschließt und J. Edgar Hoover Chef des von ihm initiierten FBI wird. Es ist das Jahr, in dem ein schwacher Sender vom Dach eines Gebäudes in Wien die erste reguläre Rundfunksendung Österreichs ausstrahlt, in Berlin der elektrische S-Bahnbetrieb aufgenommen wird sowie Anton Bruckners „Nullte Sinfonie“ in d-Moll – 28 Jahre nach dessen Tod – und George Gershwins „Rhapsody in Blue“ erstmals aufgeführt werden.
1924 ist auch das Jahr, in dem Drehbuchautor und Regisseur Robert Wiene (1873-1938) seinen Film „Orlacs Hände“ in Wien uraufführt. Vier Jahre zuvor brillierten er und sein Hauptdarsteller Conrad Veidt bereits mit dem bis heute internationalen Kultklassiker und Meisterwerk des expressionistischen Kinos „Das Kabinett des Dr. Caligari“.
Die Kernhandlung von „Orlacs Hände“ ist schnell erzählt: Dem Konzertpianisten Paul Orlac, der bei einem Zugunglück beide Hände verloren hat, werden von einem Arzt die Hände eines Mörders angenäht. Alles kreist nun um die Frage, was es bedeutet, die Körperteile eines Fremden, eines Verbrechers zu erhalten. Das im Plot entwickelte Orlac-Psychogramm steigert sich in Panikattacken und Ängste. Die Vorstellung, dass seinen Händen die Psyche des Gewalttäters innewohnen würde, ruft bei ihm Grausen und Entsetzen hervor, verstärkt durch anonyme Drohbriefe. Schließlich gerät Paul Orlac tatsächlich unter Mordverdacht. Das Komplott klärt sich jedoch ganz logisch und Orlac entlastend auf. Ohne jedwede Mystik löst sich die Anspannung und der Protagonist findet schließlich seine Ruhe.
Zeitgeschichtlich funktioniert der Stummfilm, der sich auf das gleichnamige Buch „Les Mains d'Orlac“ (1920) des französischen Science-Fiction-Schriftstellers und Autors phantastischer Literatur Maurice Renard (1875-1939) bezieht, als Spiegel seiner Zeit. Mit ihrer expressiven Haltung fokussieren Buch und Film die Angst vor medizinischem Fortschritt, im Besonderen vor Transplantation, vor außer Kontrolle laufenden Experimenten und vor einer übernatürlichen Macht, die die Geschehnisse geheimnisvoll steuert, aber auch allgemein vor dem Rätselhaften, dem Unerklärlichen und Phantastischem.
2018. Der aus Köln stammende und in Wien lebende Komponist Johannes Kalitzke (*1959) erarbeitet im Auftrag des Stuttgarter Kammerorchesters für diesen Stummfilm eine „Partitur der Ängste“.
Kalitzke hat mit Aufträgen dieser Art kompositorische Erfahrung: Bereits sein 2012 kreierter Musikzyklus zum Stummfilm „Die Weber“ (1927) von Friedrich Zelnik nach dem gleichnamigen Drama (1893/1894) von Gerhart Hauptmann für die Berliner Festspiele zeigt eine musikalisch außerordentliche, eigenständige Kraft. … Die Komposition für „Orlacs Hände“, die Uraufführung ist am Freitag (28.4.) im „republic“, schafft, nach Aussage von Johannes Kalitzke, eine wiederum eigene Verbindung von expressionistischem Stummfilm und neuer musikalischer Textur.
„Stummfilme“, so Kalitzke „verstehen sich als genuine Kunstform und explizit nicht als Entertainment. Es ist also nicht damit getan, das bewegte Bild zu illustrieren oder einfach nur zu verdoppeln. Es geht darum, die psychologischen Hintergründe zu kommentieren. ‚Orlac‘ besteht zum größten Teil aus Projektion und Angstneurosen; Verlustängste als Künstler und Pianist. Film wie Musik stellen das Innenleben dieser Person dar. Dieses dreht sich konsequent um das Klavier. Die gesamte musikalische Textur wird vom Innenleben des Klaviers aufgezogen. Insofern ist meine musikalische Betrachtung auf die psychologische Prozedur fokussiert. … Die Innenaufnahmen im Stummfilm bestehen aus unbewohnbaren Räumlichkeiten. Es gibt darin keinen einzigen Raum, in dem sich Schauspieler oder Zuschauer wohl- oder gar heimisch fühlen könnten.“ … Es gibt konkrete Hinweise auf Kompositionen im Stummfilm, mit denen sich Paul Orlac beschäftigt hat – mit Liszt und Chopin. Eines der konkreten stummfilmisch-musikalischen Zeichen ist der Moment, als sich Orlac eine Schellackplatte auflegt, die er selbst einmal eingespielt hat. Auf ihr ist zu lesen: „Friedrich Chopin: ‚Nocturno‘, Op. 55, Nr. 2, I. Teil“. Ansonsten bleibt das Klavier als Instrument das zentrale Symbol für Orlacs berufliche Existenz und persönliche Identität.
Bei der zum Stummfilm entstandenen Komposition spaltet sich das Instrument: „Das Klavier wird nun auf drei verschiedene Instrumente aufgeteilt. Es gibt ein normales Klavier – das wird im Sinn von Chopin benutzt. Dann gibt es ein präpariertes Klavier, quasi ein ‚gepierctes‘, welches die normalen Klavierklänge denaturiert, ein gewissermaßen ‚dunkles Schattenklavier‘. Und schließlich gibt es noch einen elektronischen Sampler, in dem das Klangmaterial aus dem Innenraum des Klaviers (perkussiv, Flageolett-artig etc.) ein Eigenleben führen kann“, erläutert Kaltizke.
Am Ende, so scheint es, hat sich Johannes Kalitzke im Jahr 2018 in den Kopf und in das Klavier des Paul Orlac von 1924 hineinversetzt. Mit Hilfe dieser Filmfigur bringt er dem Zuhörer von heute nicht nur das phantastische cineastische Werk von Robert Wiene musikalisch nahe, sondern schafft den Spagat, unsere postmodernen Zeiten kommentierend zum Klingen zu bringen.
Mit freundlicher Genehmigung der Aspekte Salzburg
Aspekte Salzburg - 25. bis 29. April - aspekte-salzburg.com
Bilder: Aspekte/Stills aus Orlac's Hände